created: 27.10.2024 | updated: 3.12.2024 | [[Hinweise]] **D**er Blog-Beitrag zeigt auf, dass ein Schritt in Richtung Professionalisierung im Rettungsdienst noch keine vollständige Professionalisierung darstellt. Die aktuellen Bemühungen, den Beruf des Notfallsanitäters zu professionalisieren, reichen nicht aus, um den Status einer vollwertigen Profession zu erreichen. Anhand der Kriterien von Heiner (2004) und anderen Theorien, wie denen von Eliot Freidson und Harold Wilensky, wird erläutert, welche Defizite bestehen und welche Maßnahmen notwendig sind, um eine echte Professionalisierung zu erreichen. # Professionalisierung des Notfallsanitäter_innen-Berufs **D**ie Diskussion um die Professionalisierung des Notfallsanitäter_innen-Berufs gewinnt an Bedeutung, da der Beruf eine essenzielle Rolle im Gesundheitssystem einnimmt. Ein Schritt in diese Richtung ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer vollständigen Professionalisierung. Es ist wichtig, die bisherigen Bemühungen kritisch zu betrachten und die zentralen Anforderungen einer Profession zu analysieren, um zu erkennen, wo noch Defizite bestehen. ## Theoretischer Hintergrund: Heiner (2004) und weitere Ansätze **H**einer (2004) bietet eine wertvolle Grundlage mit sieben zentralen Kriterien, die eine Profession kennzeichnen. Diese Kriterien sind jedoch nicht die einzigen, die in der Diskussion zur Professionalisierung relevant sind. Auch andere Theorien, insbesondere von Eliot Freidson und Harold Wilensky, ergänzen und vertiefen das Verständnis: - **Eliot Freidson** beschreibt die Bedeutung von Autonomie und die Selbstregulierung von Berufen als Kern der Professionalisierung. Freidson sieht die Schaffung von Berufsverbänden und die Durchsetzung eigener Standards als essenziell an, damit Berufe sich unabhängig von äußeren Einflüssen, etwa durch staatliche oder wirtschaftliche Vorgaben, entwickeln können. Autonomie ist somit ein entscheidendes Merkmal für eine Profession, das im Rettungsdienst ausgebaut werden muss. - **Harold Wilensky** hingegen betrachtet die Professionalisierung als Prozess, der in Stufen verläuft: vom Beruf mit niedriger Expertise hin zu einer vollen Profession mit klar definierten Ausbildungswegen und kodifizierten Standards. Diese Stufen können auf den Rettungsdienst übertragen werden, um die Entwicklung des Berufs zu verstehen und gezielt Maßnahmen für die Weiterentwicklung zu setzen. ## Heiners Kriterien auf den Rettungsdienst angewandt 1. **Spezielle Expertise** Notfallsanitäter_innen verfügen über spezifisches Wissen und praktische Fertigkeiten, aber es fehlt oft eine tiefgehende wissenschaftliche Fundierung. Wie Freidson betont, ist wissenschaftliche Expertise essenziell, um sich als Profession zu etablieren. Hier ist eine stärkere Integration von wissenschaftlichen Inhalten und Forschung in die Ausbildung notwendig, um die Professionalisierung voranzutreiben. 2. **Akademische Ausbildung** Die Akademisierung ist bislang lückenhaft. Wilensky beschreibt, dass eine volle Profession durch die Etablierung von akademischen Ausbildungswegen geprägt ist. Es braucht flächendeckende Studiengänge, die Theorie und Praxis verbinden und auf wissenschaftlicher Basis aufbauen. 3. **Abgegrenzte Kompetenzdomäne** Der Rettungsdienst muss sich klar von anderen Gesundheitsberufen abgrenzen, um eine eigenständige Domäne zu etablieren. Laut Freidson ist dies notwendig, damit der Beruf unabhängig und eigenständig agieren kann. Gesetzliche Regelungen sollten dies klar festlegen und die Kompetenzbereiche erweitern. 4. **Gesellschaftlich grundlegende Aufgaben** Die Bedeutung des Rettungsdienstes ist unbestritten, aber gesellschaftliche Anerkennung bleibt aus. Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen, wie von Wilensky vorgeschlagen, könnten helfen, die Bedeutung und Wertschätzung des Berufs zu steigern. 5. **Autonomie der Profession** Notfallsanitäter_innen sind aktuell stark von ärztlichen Weisungen abhängig. Freidson argumentiert, dass für eine vollständige Profession Autonomie und Selbstregulierung zentral sind. Es müssen berufsständische Organisationen geschaffen werden, die die Entwicklung des Berufs selbst steuern. 6. **Individuelle Entscheidungsspielräume** Laut Heiner und Freidson erfordert eine Profession große Entscheidungsspielräume für die Fachkräfte. Im Rettungsdienst sind diese durch gesetzliche Rahmenbedingungen eingeschränkt. Anpassungen sind notwendig, um Notfallsanitäter_innen mehr Autonomie im Einsatz zu geben. 7. **Kodifiziertes berufliches Ethos** Ein verbindlicher Berufskodex, der ethische Standards festlegt, ist ein entscheidendes Merkmal einer Profession. Aktuell fehlt ein solcher Kodex im Rettungsdienst. Die Entwicklung eines klaren Kodexes würde dazu beitragen, die ethischen Standards im Beruf zu festigen und die Professionalität zu steigern. ## Der Weg zur Professionalisierung ist lang und herausfordernd **D**er Rettungsdienst hat begonnen, sich in Richtung Professionalisierung zu entwickeln, aber es braucht tiefgreifende Reformen und strukturelle Anpassungen, um das Ziel einer vollwertigen Profession zu erreichen. Die Anwendung der Theorien von Heiner, Freidson und Wilensky zeigt, dass noch viele Schritte notwendig sind, um die nötige Autonomie, wissenschaftliche Fundierung und gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. **E**ine echte Professionalisierung erfordert einen umfassenden Dialog zwischen Bildungseinrichtungen, Gesetzgebern und Berufsverbänden sowie die Entwicklung klarer Strukturen und Standards. Nur so kann der Beruf des Notfallsanitäters langfristig als eigenständige, vollwertige Profession etabliert werden. ### Punkt 1: Spezielle Expertise #### Status Quo **D**er aktuelle Stand im deutschen Rettungsdienst zeigt, dass Notfallsanitäter_innen über spezifische praktische Fähigkeiten verfügen, jedoch fehlt es häufig an einer umfassenden wissenschaftlichen Fundierung dieser Expertise. Die Ausbildung ist stark praxisorientiert und fokussiert sich auf standardisierte Handlungsabläufe und notfallmedizinische Technik. Wissenschaftliche Forschung und theoretische Vertiefung sind nur rudimentär integriert. Studien zeigen, dass sich die Notfallversorgung zwar weiterentwickelt, der Fokus jedoch primär auf operativen Verbesserungen liegt, wie etwa der Einführung neuer Technologien oder dem Ausbau digitaler Systeme​ [Roland Berger](https://www.rolandberger.com/en/Insights/Publications/Multicopters-for-emergency-medical-services.html). #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **L**aut Heiner (2004) und Freidson (2001) ist spezifische und wissenschaftlich fundierte Expertise ein zentrales Merkmal einer echten Profession. Eine Profession erfordert nicht nur praktische Fähigkeiten, sondern auch theoretisches Wissen, das kontinuierlich durch Forschung erweitert wird. Freidson betont, dass Berufe, die sich ausschließlich auf praktische Abläufe stützen, Gefahr laufen, fremdbestimmt zu bleiben und die Eigenständigkeit einer vollen Profession zu verlieren. **W**ilensky (1964) ergänzt, dass der Prozess der Professionalisierung in der Entwicklung und Anwendung einer eigenen Wissensbasis besteht, die theoretisch fundiert und evidenzbasiert ist. Dies würde im Rettungsdienst bedeuten, dass Notfallsanitäter_innen nicht nur Handlungsabläufe ausführen, sondern diese auch kritisch reflektieren und weiterentwickeln, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m die Expertise im Rettungsdienst zu professionalisieren, müssen folgende Maßnahmen ergriffen werden: 1. **Einbindung von Universitäten und Forschungseinrichtungen**: Die Entwicklung von akademischen Programmen, die Theorie und Praxis verbinden, ist essenziell. Studiengänge für Notfallmedizin und Rettungswissenschaften sollten aufgebaut werden, die auf wissenschaftlicher Basis lehren und gleichzeitig praxisnahe Simulationen bieten. 2. **Förderung von Forschung im Rettungswesen**: Die Integration von Forschungsprojekten, die sich auf präklinische Notfallmedizin und Rettungsmanagement konzentrieren, könnte dazu beitragen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren und in die Ausbildung zu integrieren. 3. **Wissenschaftliche Weiterbildung**: Notfallsanitäter_innen sollten Zugang zu kontinuierlicher Weiterbildung haben, die wissenschaftliche Inhalte vermittelt und auf die Anwendung von Evidenz in der Praxis abzielt. Dies könnte durch Fortbildungsprogramme und Zertifizierungen gewährleistet werden, die von berufsständischen Organisationen koordiniert werden. **D**urch diese Maßnahmen kann die spezifische Expertise im Rettungsdienst ausgebaut werden, um den Anforderungen einer professionellen und wissenschaftlich fundierten Berufsausübung gerecht zu werden. Dies ist ein wesentlicher Schritt, um den Rettungsdienst als eigenständige Profession zu etablieren und weiterzuentwickeln. ### Punkt 2: Akademische Ausbildung #### Status Quo **I**n Deutschland ist die Ausbildung für Notfallsanitäter\_innen überwiegend praxisorientiert und berufsfachschulbasiert. Studiengänge im Bereich Rettungswesen sind noch selten, und es fehlen einheitliche akademische Strukturen, die Notfallsanitäter\_innen auf Hochschulniveau ausbilden. Es gibt einzelne Studiengänge, die sich mit Notfallmedizin und Rettungswissenschaften befassen, jedoch sind diese Programme nicht flächendeckend verfügbar und oft auf spezifische Regionen oder Hochschulen begrenzt. Nur wenige Hochschulen bieten duale Studiengänge oder Weiterbildungen auf akademischem Niveau an, die Theorie und Praxis verknüpfen​ [springermedizin.de](https://www.springermedizin.de/undergraduate-medical-education-in-emergency-medical-care-a-nati/9431966), [Semantic Scholar](https://pdfs.semanticscholar.org/535a/93a80068d357c67b713a9389275d2a8d06c6.pdf). **E**inige Initiativen arbeiten daran, die akademische Ausbildung im Bereich der präklinischen Notfallversorgung zu stärken. Beispielsweise wird vermehrt Simulationstechnologie in die Ausbildung integriert, um realitätsnahe Szenarien zu schaffen. Dennoch bleibt die Umsetzung inkonsistent, und viele Ausbildungsprogramme bieten nach wie vor begrenzte akademische Tiefe und eine unzureichende wissenschaftliche Fundierung​ [springermedicine.com](https://www.springermedicine.com/undergraduate-medical-education-in-emergency-medical-care-a-nati/22353080). #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **N**ach Heiner (2004) ist eine akademische Ausbildung eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung einer Profession. Auch Eliot Freidson betont, dass eine Profession durch ihre eigene Wissensproduktion und die Ausbildung auf Hochschulniveau gekennzeichnet ist. Ohne einheitliche akademische Ausbildungsstandards bleibt der Rettungsdienst weiterhin fremdbestimmt und kann sich nicht als vollwertige Profession etablieren. **W**ilensky (1964) beschreibt die Entwicklung von Berufen hin zu einer vollen Profession als Prozess, der durch die Institutionalisierung von akademischen Ausbildungswegen geprägt ist. Diese Stufe hat der Rettungsdienst in Deutschland bisher nur ansatzweise erreicht. Für eine echte Professionalisierung muss die Ausbildung über das Fachschulniveau hinaus auf Hochschulen ausgeweitet werden, um wissenschaftliche Methodik und fundierte Theorie zu integrieren. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m die akademische Ausbildung im Rettungsdienst zu stärken und den Beruf zu professionalisieren, sind folgende Maßnahmen notwendig: 1. **Entwicklung flächendeckender Studiengänge**: Es sollten mehr duale und akademische Studiengänge für Notfallmedizin und Rettungswissenschaften eingerichtet werden, die Theorie und Praxis gezielt verbinden. Diese Programme könnten sowohl als Bachelor- als auch als Masterstudiengänge angeboten werden, um unterschiedliche Bildungsniveaus abzudecken und den Beruf weiter zu akademisieren. 2. **Kooperationen zwischen Hochschulen und Rettungsdiensten**: Die Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Fachhochschulen und Rettungsdiensten sollte intensiviert werden, um praxisnahe und wissenschaftlich fundierte Ausbildungsmodelle zu entwickeln. Dies würde nicht nur die Qualität der Ausbildung steigern, sondern auch die Akzeptanz und Durchdringung von akademischen Programmen im Rettungswesen verbessern. 3. **Standardisierung und Anerkennung der akademischen Abschlüsse**: Es ist wichtig, eine einheitliche Anerkennung von akademischen Abschlüssen im Rettungsdienst zu etablieren, die über das Fachschulniveau hinausgeht. Dazu gehört die Entwicklung nationaler Standards, die sicherstellen, dass Absolvent_innen akademischer Programme als gleichwertig oder höher qualifiziert gelten als jene aus berufsfachschulischen Ausbildungen. **D**iese Maßnahmen zielen darauf ab, die Akademisierung des Rettungsdienstes zu stärken und den Beruf auf ein wissenschaftlich fundiertes Niveau zu heben. Dies würde nicht nur die Qualität der präklinischen Notfallversorgung verbessern, sondern auch die Attraktivität des Berufs langfristig erhöhen. ### Punkt 3: Abgegrenzte Kompetenzdomäne #### Status Quo **I**m deutschen Rettungsdienst ist die Kompetenzdomäne nicht vollständig abgegrenzt. Notfallsanitäter\_innen sind zwar für die präklinische Versorgung zuständig, jedoch überschneiden sich ihre Aufgabenbereiche häufig mit denen anderer medizinischer Berufe, insbesondere der Notärzte und Pflegekräfte. In vielen Notfallsituationen übernimmt der Notarzt die Führung und delegiert Aufgaben an das Rettungspersonal, wodurch deren Autonomie eingeschränkt bleibt. Auch die Notwendigkeit eines ärztlichen Beistands in vielen Einsätzen zeigt, dass die Entscheidungs- und Handlungskompetenzen der Notfallsanitäter\_innen begrenzt sind​ [springermedizin.de](https://www.springermedizin.de/undergraduate-medical-education-in-emergency-medical-care-a-nati/9431966). #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **L**aut Heiner (2004) und Eliot Freidson ist eine klare Abgrenzung der Kompetenzdomäne entscheidend für die Entwicklung einer vollwertigen Profession. Berufe, die sich nicht klar von anderen abgrenzen können, bleiben oft fremdbestimmt und haben Schwierigkeiten, eigenständig zu agieren. Freidson betont, dass die Autonomie eines Berufs durch die Definition und Abgrenzung des Kompetenzbereichs unterstützt wird. Im aktuellen Zustand fehlt dem Rettungsdienst diese Unabhängigkeit, was seine Entwicklung zu einer vollwertigen Profession behindert. **W**ilensky ergänzt, dass ein wichtiger Schritt zur Professionalisierung die rechtliche und institutionelle Verankerung eines klar definierten Aufgabenbereichs ist. Ohne diese Abgrenzung bleibt der Rettungsdienst abhängig von ärztlicher Unterstützung und kann sich nicht eigenständig weiterentwickeln. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m die Kompetenzdomäne des Rettungsdienstes klarer abzugrenzen und die Professionalisierung zu fördern, sind folgende Maßnahmen erforderlich: 1. **Gesetzliche Anpassungen**: Es müssen Gesetze geschaffen werden, die den Notfallsanitäter_innen spezifische Befugnisse und Entscheidungsrechte geben, ohne dass ein Notarzt immer anwesend sein muss. Dies würde ihre Autonomie stärken und ihre Rolle im Rettungsdienst klarer definieren. 2. **Entwicklung eines Kompetenzrahmens**: Ein standardisierter Kompetenzrahmen, der die Aufgaben und Befugnisse der Notfallsanitäter_innen festlegt, sollte in Zusammenarbeit mit Berufsverbänden und Ausbildungseinrichtungen erstellt werden. Dieser Rahmen könnte als Grundlage für Ausbildungs- und Qualifizierungsstandards dienen. 3. **Erweiterung der Ausbildung**: Die Ausbildung der Notfallsanitäter_innen sollte erweitert werden, um ihnen mehr Handlungskompetenz in komplexen Notfallsituationen zu verleihen. Dazu gehört die Schulung in erweiterten medizinischen Verfahren und in der selbstständigen Entscheidungsfindung. **D**iese Maßnahmen sind notwendig, um die Rolle der Notfallsanitäter_innen zu stärken und ihre Kompetenzdomäne klar zu definieren. Nur so kann der Beruf die Eigenständigkeit erlangen, die für eine vollwertige Profession erforderlich ist. ### Punkt 4: Aufgaben von gesellschaftlich grundlegender Bedeutung #### Status Quo **O**bwohl der Rettungsdienst in Deutschland eine lebensrettende und damit essenziell gesellschaftliche Funktion erfüllt, ist die Anerkennung und Wertschätzung der Notfallsanitäter_innen begrenzt. Die Bevölkerung erkennt den Rettungsdienst oft als rein operativ und unterstützend, ohne dessen Komplexität und Bedeutung voll zu schätzen. Dies zeigt sich auch in der Vergütung und den Arbeitsbedingungen, die im Vergleich zu anderen Gesundheitsberufen hinterherhinken. Der Rettungsdienst wird als Teil des zivilen Schutzes betrachtet, steht jedoch nicht auf derselben Anerkennungsstufe wie andere medizinische Professionen​. #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **H**einer (2004) betont, dass Professionen Aufgaben von fundamentaler gesellschaftlicher Bedeutung übernehmen, die eine breite Anerkennung und Unterstützung erfahren sollten. Freidson ergänzt, dass Professionen nicht nur als technischer Dienst, sondern als autonome Einheiten mit einem eigenen, gesellschaftlich anerkannten Wert betrachtet werden sollten. Die aktuelle Diskrepanz im Rettungsdienst zeigt, dass diese Anerkennung in der Öffentlichkeit fehlt, was die Entwicklung hin zu einer echten Profession erschwert. **W**ilensky (1964) führt aus, dass Berufe, die gesellschaftlich anerkannt und wertgeschätzt werden, oft eine höhere Autonomie und Unterstützung erfahren, was wiederum zur Professionalisierung beiträgt. Um diese Anerkennung zu erreichen, ist es wichtig, die Rolle des Rettungsdienstes und die Bedeutung der Notfallsanitäter_innen stärker in den öffentlichen Fokus zu rücken. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m die gesellschaftliche Bedeutung des Rettungsdienstes zu erhöhen und eine breitere Anerkennung zu fördern, sind folgende Maßnahmen notwendig: 1. **Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärungskampagnen**: Es sollten nationale Kampagnen gestartet werden, die die wichtige Rolle des Rettungsdienstes und die Kompetenz der Notfallsanitäter_innen betonen. Durch Medienberichte, Informationsveranstaltungen und soziale Medien könnte die Bedeutung dieser Fachkräfte hervorgehoben werden. 2. **Politische und gesellschaftliche Lobbyarbeit**: Berufsverbände und Interessensgruppen sollten aktiv daran arbeiten, die Anerkennung und Entlohnung der Notfallsanitäter_innen auf politischer Ebene zu verbessern. Eine erhöhte Lobbyarbeit könnte dazu beitragen, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Rolle des Rettungsdienstes klarer und wichtiger definieren. 3. **Integration in den Bildungsbereich**: Schon in der schulischen Bildung sollte die Bedeutung des Rettungsdienstes als unverzichtbarer Teil des Gesundheitssystems vermittelt werden. Workshops, Kooperationen mit Schulen und Universitäten sowie praxisnahe Veranstaltungen könnten dazu beitragen, das Verständnis für den Beruf zu fördern. **D**iese Maßnahmen sind entscheidend, um die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung des Rettungsdienstes zu erhöhen, was langfristig zur Professionalisierung und Autonomie des Berufs beitragen würde. ### Punkt 5: Autonomie der Profession #### Status Quo **I**m deutschen Rettungsdienst ist die Autonomie der Notfallsanitäter\_innen stark eingeschränkt. Der Einsatz und die Entscheidungsfreiheit der Rettungskräfte sind oft an die Anwesenheit eines Notarztes (Notarzt-System) gebunden. Notfallsanitäter\_innen agieren in lebensbedrohlichen Situationen zunächst eigenständig, aber sobald ein Notarzt eintrifft, übernehmen sie eine unterstützende Rolle unter ärztlicher Aufsicht. Der rechtliche Rahmen, der durch das Notfallsanitätergesetz definiert ist, erlaubt es den Notfallsanitäter_innen nur begrenzt, eigenständige Entscheidungen in Notfällen zu treffen​ [Emerald](https://www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/IJES-09-2021-0057/full/html). **U**nterschiede bestehen zudem je nach Bundesland, was zu Uneinheitlichkeiten in der Anwendung der Befugnisse führt. Die Abhängigkeit vom ärztlichen Personal und die fehlende einheitliche Regelung der Entscheidungskompetenzen verdeutlichen, dass die Autonomie im Rettungsdienst nicht ausreicht, um als eigenständige Profession zu gelten​. #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **H**einer (2004) und Freidson (2001) betonen beide, dass Autonomie ein zentrales Merkmal für eine vollwertige Profession ist. Ein Beruf muss die Möglichkeit haben, eigenständig und unabhängig zu agieren, um sich als Profession zu etablieren. Die Abhängigkeit von ärztlichen Weisungen und die mangelnde Entscheidungsfreiheit für Notfallsanitäter_innen widersprechen diesem Kriterium. **W**ilensky (1964) ergänzt, dass die Entwicklung einer Profession immer mit der Etablierung von Autonomie und Eigenverantwortung verbunden ist. Nur wenn Notfallsanitäter_innen in der Lage sind, eigenständig zu entscheiden und zu handeln, können sie als gleichwertige Akteure im Gesundheitssystem angesehen werden. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m die Autonomie der Notfallsanitäter_innen zu stärken und den Weg zur Professionalisierung zu ebnen, sind folgende Maßnahmen notwendig: 1. **Erweiterung der rechtlichen Rahmenbedingungen**: Die bestehenden Gesetze sollten so angepasst werden, dass Notfallsanitäter_innen mehr Entscheidungsfreiheit im Einsatz erhalten. Dies könnte durch eine Erweiterung der medizinischen Maßnahmen geschehen, die sie ohne ärztliche Anordnung durchführen dürfen, insbesondere in zeitkritischen Situationen. 2. **Einheitliche Befugnisse in allen Bundesländern**: Es ist notwendig, die Unterschiede zwischen den Bundesländern zu beseitigen und einheitliche Standards für die Autonomie und Befugnisse von Notfallsanitäter_innen zu etablieren. Dies würde eine klare und konsistente Anwendung ihrer Kompetenzen im gesamten Bundesgebiet sicherstellen. 3. **Aufbau einer berufsständischen Organisation**: Um die Entwicklung der Profession voranzutreiben, könnte eine berufsständische Organisation eingerichtet werden, die die Interessen der Notfallsanitäter\_innen vertritt und Standards für die Ausübung des Berufs festlegt. Diese Organisation könnte auch Schulungsprogramme und Weiterbildungen anbieten, die die Entscheidungsfähigkeiten der Notfallsanitäter\_innen weiter ausbauen. **D**urch diese Maßnahmen kann die Autonomie im Rettungsdienst gestärkt und die Professionalisierung des Berufs entscheidend vorangetrieben werden. Eine erhöhte Autonomie würde nicht nur die Qualität der Notfallversorgung verbessern, sondern auch die Position und Anerkennung der Notfallsanitäter_innen im Gesundheitssystem festigen. ### Punkt 6: Große individuelle Entscheidungsspielräume #### Status Quo **I**n Deutschland sind die Entscheidungsspielräume der Notfallsanitäter\_innen stark eingeschränkt. Obwohl das Notfallsanitätergesetz (NotSanG) bestimmte heilkundliche Maßnahmen erlaubt, bleiben diese auf lebensbedrohliche Notfälle beschränkt und sind nur unter klar definierten Voraussetzungen zulässig. Das Gesetz erlaubt den Notfallsanitäter\_innen, bestimmte Maßnahmen selbstständig durchzuführen, jedoch nur bis zum Eintreffen eines Arztes oder einer weitergehenden ärztlichen Versorgung​ [Deutscher Bundestag](https://www.bundestag.de/resource/blob/660578/97bfe77911c83345e882e0e447d288f6/WD-9-032-19-pdf-data.pdf). **D**ies führt zu einer eingeschränkten Autonomie im praktischen Einsatz, da Notfallsanitäter_innen sich oft auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) berufen müssen, um ohne Arzt rechtlich abgesichert zu handeln. In der Praxis bedeutet dies, dass sie sich in einem rechtlichen Graubereich bewegen und potenziell strafbar machen könnten, wenn ihre Maßnahmen nicht als „notwendig“ oder „angemessen“ eingestuft werden​ [Deutscher Bundestag](https://www.bundestag.de/resource/blob/663952/a7ba73495c8012985e52050b14245bf2/19_14_0109-10-_BRK_ATA-OTA.pdf). #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **H**einer (2004) und Freidson (2001) betonen, dass große individuelle Entscheidungsspielräume und die Möglichkeit, autonom zu agieren, entscheidende Merkmale einer vollwertigen Profession sind. Die rechtliche Einschränkung, die Notfallsanitäter_innen in Deutschland erleben, steht im Gegensatz zu diesen Theorien. Ohne erweiterte Handlungskompetenzen und die rechtliche Absicherung, heilkundliche Entscheidungen selbstständig zu treffen, bleibt der Beruf fremdbestimmt und kann sich nicht zu einer eigenständigen Profession entwickeln. **W**ilensky (1964) beschreibt, dass Professionen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie über das notwendige Wissen und die Befugnisse verfügen, um unabhängig und ohne externe Weisungen zu handeln. Die aktuelle Situation im Rettungsdienst zeigt jedoch, dass Notfallsanitäter_innen oft in ihrer Autonomie eingeschränkt sind und ihre Kompetenzen nur eingeschränkt anwenden dürfen. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m die Entscheidungsspielräume der Notfallsanitäter_innen zu erweitern und den Beruf zu professionalisieren, sind folgende Maßnahmen notwendig: 1. **Gesetzliche Erweiterung der Kompetenzen**: Eine Überarbeitung des Notfallsanitätergesetzes (NotSanG) ist erforderlich, um Notfallsanitäter_innen größere Befugnisse zu geben. Diese Anpassung sollte klarstellen, dass sie eigenverantwortlich heilkundliche Maßnahmen durchführen dürfen, ohne dabei in einen rechtlichen Graubereich zu geraten. 2. **Schaffung evidenzbasierter Richtlinien und Standards**: Es sollten einheitliche Protokolle und Standards entwickelt werden, die Notfallsanitäter_innen in ihrer Entscheidungsfindung unterstützen und rechtliche Sicherheit gewährleisten. Diese Standards könnten durch berufsständische Organisationen und in Zusammenarbeit mit medizinischen Fachverbänden entwickelt werden. 3. **Stärkung der Ausbildung**: Die Ausbildung der Notfallsanitäter\_innen sollte erweitert werden, um die Entscheidungsfähigkeit in komplexen und zeitkritischen Situationen zu fördern. Fortbildungen und Zertifizierungen, die sich auf eigenständige Notfallentscheidungen konzentrieren, könnten dazu beitragen, das Vertrauen in die Kompetenzen der Notfallsanitäter\_innen zu stärken und ihre Handlungsspielräume zu erweitern. **D**iese Maßnahmen sind essenziell, um die Entscheidungsspielräume der Notfallsanitäter\_innen zu vergrößern und die rechtlichen Unsicherheiten zu beseitigen. Nur durch eine klare gesetzliche Grundlage und umfassende Schulungen können Notfallsanitäter\_innen die Autonomie und Kompetenz erlangen, die für eine vollwertige Profession notwendig sind. ### Punkt 7: Kodifiziertes berufliches Ethos #### Status Quo **I**m deutschen Rettungsdienst gibt es derzeit keinen einheitlich kodifizierten Berufskodex für Notfallsanitäter_innen, der ethische Standards und berufliche Richtlinien festlegt. Die Orientierung an ethischen Prinzipien erfolgt meist durch allgemeine Richtlinien und Bestimmungen, die für alle Gesundheitsberufe gelten, aber nicht speziell auf die präklinische Notfallversorgung zugeschnitten sind. Viele dieser Regelungen stammen von ärztlichen Berufsverbänden oder sind im Rahmen allgemeiner medizinischer Ethik, wie im Musterberufsordnung für Ärzte, formuliert​ [Bundesärztekammer](https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE_EN_2018.pdf). **I**n der Praxis stehen Notfallsanitäter_innen oft vor ethischen Herausforderungen, wie der Entscheidungsfindung unter Zeitdruck, in schwierigen Situationen oder im Umgang mit Patienten ohne Einwilligungsfähigkeit. Es fehlt jedoch an einem klaren beruflichen Ethos, das speziell auf die Anforderungen und Besonderheiten des Rettungsdienstes abgestimmt ist​ [AKEK](https://www.akek.de/wp-content/uploads/Ph.D.-Retreat_072020_final.pdf). #### Anwendung auf Professionalisierungstheorien **H**einer (2004) und Eliot Freidson betonen beide die Bedeutung eines kodifizierten beruflichen Ethos als zentrales Element einer vollwertigen Profession. Ein Beruf, der über ethische Standards verfügt, zeigt nicht nur seine Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft, sondern etabliert auch klare Handlungsrichtlinien für die Fachkräfte. Ein solches Ethos hilft dabei, die Professionalität zu festigen und Vertrauen in die Berufsausübung zu schaffen. **W**ilensky (1964) hebt hervor, dass die Entwicklung eines verbindlichen Kodexes eine entscheidende Phase in der Professionalisierung eines Berufs darstellt. Solange der Rettungsdienst kein eigenständiges Ethos hat, das speziell auf die Herausforderungen und Aufgabenbereiche der Notfallsanitäter_innen abgestimmt ist, bleibt der Beruf in Abhängigkeit von allgemeineren, oft ärztlich geprägten Vorgaben. #### Maßnahmen zur Professionalisierung **U**m ein kodifiziertes berufliches Ethos im Rettungsdienst zu entwickeln und die Professionalität zu fördern, sind folgende Maßnahmen notwendig: 1. **Entwicklung eines spezifischen Berufskodexes**: Es sollte ein Kodex erarbeitet werden, der sich speziell auf die präklinische Notfallversorgung bezieht. Dies könnte durch die Zusammenarbeit von Berufsverbänden, Notfallsanitäter\_innen und Ethikexperten geschehen, um sicherzustellen, dass der Kodex die realen Herausforderungen und ethischen Dilemmata der Notfallsanitäter\_innen widerspiegelt. 2. **Implementierung von ethischen Schulungsprogrammen**: In der Aus- und Weiterbildung sollten ethische Fragestellungen eine zentrale Rolle spielen. Schulungen, die ethische Entscheidungsfindung und den Umgang mit komplexen Situationen thematisieren, könnten helfen, die Anwendung des beruflichen Ethos in der Praxis zu verankern. 3. **Förderung von berufsständischen Organisationen**: Berufsverbände sollten eine stärkere Rolle bei der Entwicklung und Durchsetzung eines beruflichen Ethos spielen. Diese Organisationen könnten auch als Ansprechpartner dienen, wenn ethische Konflikte auftreten, und ihre Mitglieder in ethischen Fragestellungen beraten und unterstützen. **D**iese Maßnahmen sind entscheidend, um ein einheitliches und verbindliches Ethos für den Rettungsdienst zu etablieren. Ein klarer Kodex würde nicht nur die Professionalität der Notfallsanitäter_innen stärken, sondern auch die Wahrnehmung des Berufs als eigenständige und verantwortungsvolle Profession fördern. ## Zuversichtlicher Blick in die Zukunft **D**er Weg zur vollständigen Professionalisierung des Notfallsanitäter_innen-Berufs mag herausfordernd und langwierig erscheinen, doch die bisherigen Fortschritte zeigen, dass sich bereits vieles bewegt. Die ersten Schritte sind gemacht, und mit einer klaren Vision, gezielten Reformen und einem offenen Dialog zwischen allen Akteuren - von Bildungseinrichtungen über Gesetzgeber bis hin zu Berufsverbänden - können wir den Rettungsdienst auf das nächste Level heben. **W**enn wir weiterhin gemeinsam an einer fundierten, wissenschaftlich untermauerten und rechtlich abgesicherten Berufsausübung arbeiten, haben Notfallsanitäter_innen das Potenzial, ihre Rolle als autonome, hochqualifizierte Fachkräfte im Gesundheitssystem voll auszuschöpfen. Die Professionalisierung ist kein ferner Traum, sondern ein erreichbares Ziel, wenn wir den eingeschlagenen Weg konsequent fortsetzen und als Gemeinschaft voranschreiten. **D**ie Zukunft des Rettungsdienstes liegt in unseren Händen - lassen wir uns nicht mit halben Maßnahmen zufriedengeben, sondern streben wir danach, ihn zu einer vollwertigen und anerkannten Profession zu machen, die der Bedeutung und Verantwortung dieses Berufs gerecht wird. # Quelle(n) - Heiner, M. (2004). _Professionalität in der Sozialen Arbeit_. Stuttgart: Kohlhammer. - Freidson, E. (2001). _Professionalism: The Third Logic_. Chicago: University of Chicago Press. - Wilensky, H. L. (1964). _The Professionalization of Everyone?_ American Journal of Sociology, 70(2). --- #Akademisierung #Beratung #Berufsethik #Bildungswissenschaft #Blog #bQuadrat #Forschung #Gesundheitsbildung #Notfallsanitäter #Professionalisierung #Rettungsdienst #Standpunkt