created: 30.8.2025 | [updated](https://git.jochen-hanisch.de/jochen-hanisch/Professionelle-Praxis): 30.8.2025 | published: 30.8.2025 | [Austausch](https://lernen.jochen-hanisch.de/course/view.php?id=4) | [[Hinweise]] **Fallvignetten zur Soziotherapie** Diese Sammlung stellt exemplarische Fälle dar, in denen Soziotherapie wirksam eingesetzt werden kann. Ziel ist es, abstrakte Richtlinien und die [[Rahmenbedingungen Soziotherapie]] anhand typischer Versorgungssituationen praxisnah zu veranschaulichen. > [!abstract] Für Praxen in 30 Sekunden > - **Ziel**: Abstrakte Richtlinien in **konkrete, überweisungsrelevante** Alltagssituationen übersetzen. > - **Ihr Vorteil**: Weniger Therapieabbrüche, planbare Termine, klare Rückmeldeschleifen. > - **Wie arbeiten**: Aufsuchend, 1:1, entlang des ärztlich/psychotherapeutischen Behandlungsplans – mit dokumentierten Outcome-Kennzahlen. Die Fallvignetten zeigen, wie Patient:innen mit schweren psychischen Erkrankungen im Alltag begleitet und stabilisiert werden können – stets in enger Abstimmung mit dem ärztlich/psychotherapeutischen Behandlungsplan. So entsteht für Interessierte ein anschaulicher Zugang zu den praktischen Möglichkeiten und Grenzen der Soziotherapie. > [!info] Datenschutz & Kommunikation für Kooperationspartner:innen > >- **Einwilligung/Schweigepflicht**: Schriftliche Entbindung/Einwilligung der Patient:innen liegt vor; Kommunikation erfolgt zweckgebunden. >- **Rückmeldeschleifen**: Standardmäßig **alle 8 Wochen** strukturierte Kurzberichte (Ziele, Maßnahmen, Outcomes); zusätzlich bei wesentlichen Ereignissen. >- **Kontaktwege**: Bevorzugt sicher per E‑Mail/Fax gemäß Praxisvorgaben; Telefonate für zeitkritische Abstimmung. # Fall 1 – Chronisch instabiler Patient mit Schizophrenie > [!example] Kernlage > Wiederholte Terminabsagen, unregelmäßige Medikamenteneinnahme und fehlende Tagesstruktur erhöhen das Risiko erneuter Klinikaufenthalte. - **Hintergrund**: Herr K., 42 Jahre, lebt allein in einer kleinen Wohnung. Seit seiner Jugend mehrfache psychiatrische Klinikaufenthalte. Diagnose: paranoide Schizophrenie. Er zeigt starke Antriebsarmut, Vergesslichkeit und misstrauisches Verhalten. Sein soziales Netzwerk ist brüchig; Kontakt besteht nur sporadisch zur Schwester. - **Problem**: Herr K. sagt wiederholt Termine beim Psychiater kurzfristig ab oder erscheint nicht. Medikamente nimmt er nur unregelmäßig, was zu vermehrten psychotischen Episoden führt. Seine Tagesstruktur ist vollständig aufgelöst; häufig verbringt er Tage im Bett, Mahlzeiten sind unregelmäßig. Gefahr der Chronifizierung und erneuter stationärer Aufnahme ist hoch. - **Soziotherapeutische Rolle**: Die Aufgabe besteht darin, Herr K. zu stabilisieren, eine minimale Alltagsstruktur aufzubauen und ihn in die Lage zu versetzen, ärztliche und psychotherapeutische Behandlung zuverlässig wahrzunehmen. Dazu gehören Terminmanagement, Erinnerungshilfen, begleitete Wege, Förderung von Selbstorganisation, Psychoedukation und Einbezug der Schwester als Ressource. ### Beispiel-Therapieplan (Fall 1) | Bereich | Inhalt | |----------------------|--------| | **Übergeordnetes Ziel** | Sicherstellung kontinuierlicher ambulanter psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung, Vermeidung erneuter stationärer Aufenthalte | | **Teilziele** | 1. Regelmäßige Wahrnehmung ärztlicher Termine (mindestens 90 % Teilnahmequote innerhalb von 6 Monaten)<br>2. Aufbau einer stabilen Medikamenten-Compliance (tägliche Einnahme nach Plan, dokumentiert über Erinnerungssysteme)<br>3. Einführung einer einfachen Tagesstruktur (feste Schlaf- und Essenszeiten, kleine Alltagsaktivitäten) | | **Maßnahmen** | - Wöchentliche aufsuchende Kontakte (Hausbesuche, gemeinsame Wege)<br>- Erstellung eines visualisierten Wochenplans mit Terminen, Medikamenteneinnahme und Essenszeiten<br>- Erinnerungshilfen (Wecker, digitale Kalender)<br>- Begleitung zu kritischen Arztterminen und Unterstützung bei Kommunikation mit der Praxis<br>- Psychoedukation: Gespräche über Krankheitsbild, Frühwarnzeichen und Umgang mit Symptomen<br>- Einbindung der Schwester in den Betreuungsplan (telefonische Erinnerungen, soziale Unterstützung) | | **Methoden** | Ressourcenorientierte Gesprächsführung, Validierung, Motivationsarbeit<br>Systemische Einbeziehung des sozialen Umfelds<br>Kleinschrittige Aktivierung (z. B. Spaziergänge, feste Einkaufszeiten) | | **Evaluation** | Zwei-Monats-Review mit schriftlicher Rückmeldung an den verordnenden Psychiater<br>Anpassung des Betreuungsplans nach Rückmeldungen und Verlauf<br>Dokumentation aller Maßnahmen und Fortschritte zur Sicherstellung der Transparenz | **Was sieht die Praxis?** - Wiederholte **No-Shows**/Kurzfristabsagen, unklare Medikamenteneinnahme, fehlende Tagesstruktur. - Zunehmende **Rückzugstendenz** und misstrauische Interaktion am Telefon/in der Sprechstunde. - Häufige **Krisenkontakte** ohne nachhaltige Stabilisierung. **Überweisen, wenn …** - ≥ 3 nicht wahrgenommene Termine in 8–12 Wochen **oder** - wiederholte **Adhärenzprobleme** (Medikation) **und** Gefahr stationärer Eskalation **oder** - deutliche **Fähigkeitsstörungen** (z. B. Struktur, Antrieb, Krankheitseinsicht). **Outcome-Kennzahlen (Monitoring)** - Terminquote (Ziel: **≥ 90 %** in 6 Monaten). - Dokumentierte Medikationseinnahme pro Woche (Ziel: **≥ 6/7 Tage**). - Stationäre Aufenthalte (Ziel: **0 Rehospitalisierungen** im Quartal). - **NUTZEN für Ihre Praxis**: Verlässliche Terminwahrnehmung, umsetzbare Therapieinhalte, klare Rückmeldeschleifen; Risiko stationärer Wiedereinweisungen sinkt. # Fall 2 – Schwere Depression mit Rückzug > [!example] Kernlage > Schwere Depression mit Rückzug: Patientin verbringt Tage im Bett, sagt Termine ab und verliert jede Alltagsstruktur. - **Hintergrund**: Frau M., 36 Jahre, alleinstehend, lebt in einer kleinen Mietwohnung. Seit mehreren Monaten zunehmende depressive Symptomatik mit Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und sozialem Rückzug. Sie ist krankgeschrieben und hat kaum Alltagskontakte. Es besteht eine diagnostizierte rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode ohne psychotische Symptome. - **Problem**: Frau M. verbringt die meisten Tage im Bett, versorgt sich nur unregelmäßig mit Mahlzeiten, ihre Wohnung ist zunehmend verwahrlost. Arzt- und Therapietermine sagt sie häufig ab, da sie sich nicht aufraffen kann. Ihre Tagesstruktur ist vollständig verloren gegangen. Es besteht akute Gefahr der Chronifizierung sowie des Abbruchs der psychotherapeutischen Behandlung. - **Soziotherapeutische Rolle**: Die Aufgabe besteht darin, Frau M. schrittweise zu aktivieren, eine verlässliche Tagesstruktur aufzubauen und sie zu stabilisieren, damit sie kontinuierlich an ihrer Psychotherapie teilnehmen kann. Dazu gehören motivierende Gespräche, begleitete erste Schritte außer Haus, Unterstützung bei Selbstorganisation und Einbindung eines kleinen sozialen Netzwerks (z. B. Freundin oder Familienangehörige). ### Beispiel-Therapieplan (Fall 2) | Bereich | Inhalt | |----------------------|--------| | **Übergeordnetes Ziel** | Wiederaufnahme und kontinuierliche Teilnahme an ambulanter Psychotherapie, verbunden mit einer schrittweisen Verbesserung der Alltagsstruktur | | **Teilziele** | 1. Verbindliche Teilnahme an mindestens 80 % der psychotherapeutischen Termine in den kommenden 6 Monaten<br>2. Einführung eines einfachen Tagesrhythmus (regelmäßige Schlafenszeiten, feste Mahlzeiten)<br>3. Aufbau von mindestens zwei stabilen, alltagsnahen Aktivitäten pro Woche (z. B. Spaziergänge, Einkaufen) | | **Maßnahmen** | - Zwei aufsuchende Kontakte pro Woche, ggf. telefonische Kurzinterventionen zur Terminvorbereitung<br>- Erstellung eines Wochenplans gemeinsam mit Frau M., der kleine, realistische Aktivitäten enthält<br>- Schrittweise Begleitung zu Arztterminen, anschließend Förderung der eigenständigen Wahrnehmung<br>- Motivierende Gespräche mit ressourcenorientiertem Fokus (Herausarbeiten von positiven Erfahrungen)<br>- Unterstützung bei Haushaltsorganisation (z. B. kleine Aufräum- oder Einkaufsschritte)<br>- Einbindung einer nahestehenden Person zur sozialen Unterstützung | | **Methoden** | Gesprächspsychotherapeutische Ansätze (Empathie, Validierung, Aktivierung)<br>Systemische Beratungselemente zur Einbeziehung sozialer Ressourcen<br>Kleinschrittige Aktivierung (Verhaltensexperimente, positive Verstärkung) | | **Evaluation** | Dokumentation der Fortschritte anhand von Wochenplänen und Rückmeldungen<br>Alle 8 Wochen schriftliche Rückmeldung an die verordnende Therapeutin<br>Anpassung der Maßnahmen in Absprache mit Patientin und Verordner:in | **Was sieht die Praxis?** - Häufige **Terminabsagen** wegen Antriebslosigkeit; Patientin „kommt nicht aus dem Bett“. - **Verwahrlosungstendenzen** in Selbstversorgung und Haushalt. - Kaum **soziale Kontakte**, steigende Isolation. **Überweisen, wenn …** - ≥ 2 abgesagte/nicht wahrgenommene Termine in 6–8 Wochen **und** - Tagesstruktur **weitgehend aufgehoben** **oder** - beginnende **Arbeitsunfähigkeit/Sozialleistungsprobleme** durch Rückzug. **Outcome-Kennzahlen (Monitoring)** - Terminquote Psychotherapie (Ziel: **≥ 80 %** in 6 Monaten). - Erreichte Alltagsaktivitäten/Woche (Ziel: **≥ 2 fixe Aktivitäten**). - Schlaf-/Mahlzeiten-Rhythmus dokumentiert (Ziel: **regelmäßig** ≥ 5 Tage/Woche). - **NUTZEN für Ihre Praxis**: Verlässliche Teilnahme an Psychotherapie, geringere Abbruchquote, kontinuierliche therapeutische Arbeit möglich. # Fall 3 – Krisenintervention nach Entlassung > [!example] Kernlage > Nach stationärer Entlassung führen offene To-dos, Überforderung und familiäre Spannungen zu erhöhter Krisengefahr. - **Hintergrund**: Herr L., 29 Jahre, wurde nach einem sechswöchigen stationären Aufenthalt wegen einer akuten psychotischen Episode entlassen. Er lebt allein, ist derzeit arbeitsunfähig und steht in engem Konflikt mit seiner Familie. Nach der Entlassung bestehen zahlreiche offene Fragen hinsichtlich weiterer Versorgung, sozialer Leistungen und Wohnsituation. Die Gefahr einer Überforderung ist hoch. - **Problem**: Herr L. wirkt instabil, zeigt Anzeichen von Überforderung und Desorientierung. Es bestehen Unsicherheiten im Umgang mit Behörden und bei der Organisation des Alltags. Erste Spannungen mit Angehörigen treten wieder auf. Ohne strukturierte Unterstützung droht eine erneute Kriseneskalation mit stationärer Wiedereinweisung. - **Soziotherapeutische Rolle**: Aufgabe ist die kurzfristige Stabilisierung im häuslichen Umfeld, die Koordination notwendiger Schritte mit Behörden und Diensten sowie die Entlastung von Patient und Angehörigen. Der Soziotherapeut fungiert als Lotsenperson, die Versorgungsschritte übersetzt und Prioritäten setzt, um Überforderung zu vermeiden. ### Beispiel-Therapieplan (Fall 3) | Bereich | Inhalt | |----------------------|--------| | **Übergeordnetes Ziel** | Vermeidung einer erneuten stationären Einweisung durch akute Stabilisierung und Sicherstellung der ambulanten Weiterbehandlung | | **Teilziele** | 1. Strukturierung der ersten vier Wochen nach Entlassung (Terminorganisation, behördliche Anträge)<br>2. Entlastung und Einbindung der Angehörigen in die Nachsorge<br>3. Aufbau einer Krisenprävention (Erkennen und Handeln bei Frühwarnzeichen) | | **Maßnahmen** | - Sofortige aufsuchende Kontakte (mindestens zweimal pro Woche in den ersten vier Wochen)<br>- Netzwerkgespräche mit Angehörigen zur Rollenklärung und Unterstützung<br>- Enge Abstimmung mit dem verordnenden Arzt und ggf. Psychotherapeutin<br>- Unterstützung bei Anträgen und Behördenkontakten (z. B. Krankengeld, Wohngeld, Sozialamt), stets mit Bezug zur Sicherung der kontinuierlichen medizinisch-psychotherapeutischen Behandlung<br>- Gemeinsame Erstellung eines Notfallplans (Krisennummern, Handlungsabfolge) | | **Methoden** | Krisenintervention nach systemischem Ansatz<br>Strukturierende Gesprächsführung zur Reduktion von Überforderung<br>Ressourcenaktivierung durch Einbeziehung von Angehörigen und Alltagsressourcen | | **Evaluation** | Erste Überprüfung nach vier Wochen, Anpassung der Maßnahmen je nach Stabilität<br>Schriftliche Rückmeldung an den verordnenden Arzt zur Dokumentation<br>Fortschrittsbewertung anhand von Terminwahrnehmung, Behördenkontakten und Belastungssymptomatik | **Was sieht die Praxis?** - Poststationäre **Überforderung**, viele ungeklärte To-dos (Ämter, Wiedereingliederung, Wohnsituation). - **Angehörigenkonflikte**, unsichere Rollen, drohende Eskalation. - Hoher Bedarf an **Lotsenfunktion** zwischen Sektoren. **Überweisen, wenn …** - Entlassung aus stationärer Behandlung **ohne** belastbares Nachsorge-Setting **oder** - wiederholte **Krisenkontakte** binnen 4 Wochen **oder** - fehlende **Behörden-/Versorgungskoordination**. **Outcome-Kennzahlen (Monitoring)** - Erledigte Nachsorge-To-dos in 4 Wochen (Ziel: **≥ 80 %**). - Anzahl Krisenkontakte/Monat (Ziel: **↓ deutliche Reduktion**). - Stationäre Wiedereinweisungen im Quartal (Ziel: **0**). - **NUTZEN für Ihre Praxis**: Strukturierte Krisen- und Übergangsbegleitung entlastet die Sprechstunde; stationäre Wiedereinweisungen werden wahrscheinlicher vermieden. --- #Soziotherapie #Fallvignetten #Therapieplan #Kooperation #Praxisalltag #Psychiatrie #Psychotherapie #Versorgung