created: 13.7.2025 | [updated](https://git.jochen-hanisch.de/jochen-hanisch/research/): 5.8.2025 | [published](https://zenodo.org/records/16743929): 5.8.2025 | [Austausch](https://lernen.jochen-hanisch.de/course/view.php?id=4) | [[Hinweise]] **Erwartungshorizonte. Ein konfrontativer Essay starrer Bewertungsmodelle und ein Plädoyer für reflexionsbasierte, kompetenzorientierte Prüfungen**. # Einleitung Erwartungshorizonte wurden eingeführt mit dem Anspruch, objektive, faire und vergleichbare Leistungsbewertungen zu ermöglichen. Der vorliegende Essay stellt diesen Anspruch jedoch grundsätzlich in Frage, sowohl aus didaktischer als auch aus rechtlicher und erkenntnistheoretischer Perspektive. Bei näherer Betrachtung moderner Prüfungsformate stellt sich eine paradoxe Frage: >[!question] Wie kann Kompetenz gefördert werden, wenn starre Erwartungshorizonte zugleich die Reflexion und Kreativität der Geprüften blockieren? Tatsächlich reduzieren Erwartungshorizonte situatives Handeln, behindern reflexionsbasierte Lösungsansätze und stehen modernen Bildungszielen ebenso entgegen wie rechtlichen Vorgaben und ethischen Grundsätzen. Dieser Beitrag zeigt auf, weshalb Erwartungshorizonte nicht nur verzichtbar sind, sondern strukturell problematische Effekte erzeugen. Gleichzeitig wird ein alternatives Prüfungsverständnis entfaltet, das auf reflexiver Begründung, situativer Angemessenheit und epistemischer Verantwortung beruht. Im Zentrum steht dabei der Begriff der Reflexion, verstanden als bewusste Auseinandersetzung mit Erfahrung, als begründetes Entscheiden im Kontext von Unsicherheit und als verantwortliches, erkenntnisgeleitetes Handeln. # Erwartungshorizonte: Ursprung und Kritik Erwartungshorizonte entstammen ursprünglich der Idee, Leistungsbewertung objektiver und vergleichbarer zu machen. Sie wurden insbesondere im schulischen Kontext eingeführt, um Transparenz herzustellen und Willkür zu begrenzen (Klieme et al., 2003). Dabei definieren sie im Vorfeld, welche Inhalte, Argumente oder Lösungsschritte als besonders relevant und bewertungswürdig gelten. Erwartungshorizonte bezeichnen in Prüfungen vorab definierte Lösungserwartungen, die als Bewertungsmaßstab fungieren, unabhängig vom situativen Kontext oder der individuellen Begründungstiefe einer Antwort (vgl. Rattay & Schneider, 2013). Die genannten Funktion erscheint auf den ersten Blick sinnvoll. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Erwartungshorizonte sowohl pädagogisch fragwürdig, als auch im Kontext kompetenzorientierter Ausbildung strukturell dysfunktional sind. Sie verschieben die Aufmerksamkeit von der situativen Leistungsfähigkeit der Geprüften hin zu einem starren Idealbild, das in der Realität häufig nicht greifbar ist (Arnold & Schüßler, 2021). Besonders problematisch wird dies in Berufsfeldern wie bspw. dem von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern, in denen Handlungsfähigkeit unter Unsicherheit zentral ist (§ 2a NotSanG, 2021). Im rechtlichen Kontext zeigt sich zudem, wie Erwartungshorizonte bspw. in der NotSan-Ausbildung weder vorgeschrieben noch systemkonform sind. Weder das Notfallsanitätergesetz (NotSanG) noch die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (NotSan-APrV) verlangen solche standardisierten Lösungsvorgaben. Im Gegenteil, da § 4 NotSanG i.V.m. § 2 NotSan-APrV explizit das Ziel eigenverantwortlichen, evidenzbasierten und situativ angemessenen Handelns betont (§ 4 NotSanG, 2021; § 2 NotSan-AprV, 2023). Starre Erwartungshorizonte laufen demnach diesem Anspruch zuwider und könnten im Extremfall sogar rechtlich angreifbar sein, insbesondere wenn sie individuelle, und gleichzeitig plausible Handlungsentscheidungen abwerten, die auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen (Ditscheid, 2021). Hinzu kommt eine diskursethische Dimension. Im Unterschied zu Erwartungshorizonten, die meist im Verborgenen der Prüfungsplanung entstehen, sind Leistungsbeschreibungen im Sinne kompetenzorientierter Curricula zu Beginn der Ausbildung transparent, verhandelbar und für alle Beteiligten zugänglich (Pätzold, 2022). Sie beruhen auf einem gemeinsamen Diskurs, nicht auf autoritärer Setzung. Vor diesem Hintergrund erscheint die Verwendung von Erwartungshorizonten kritisch zu hinterfragen, didaktisch wie auch normativ, rechtslogisch und bildungstheoretisch. # Prüfungsbias: Effekt standardisierter Erwartungshorizonte Standardisierte Erwartungshorizonte erzeugen einen strukturellen Bias in der Leistungsbewertung. Sie bevorzugen Lernende, die mit den impliziten kulturellen, sprachlichen oder formalen Codes der Prüfungsinstanz vertraut sind. Dieses Phänomen ist bildungssoziologisch vielfach beschrieben worden, wie etwa bei Bourdieu & Passeron (1971) unter dem Begriff der symbolischen Gewalt im Bildungssystem oder bei Hopf (2011) in der Analyse schulischer Bewertungspraktiken. Während Erwartungshorizonte Objektivität suggerieren, verschleiern sie, dass Bewertungsmaßstäbe nie neutral sind. Sie repräsentieren eine dominante Wissensordnung und reproduzieren soziale Ungleichheit, indem sie jene benachteiligen, deren Ausdrucks- und Denkformen von dieser Ordnung abweichen. Das widerspricht dem Anspruch von Fairness und Gleichheit, den Prüfungen normativ einlösen sollen[^1]. Besonders problematisch ist die konformitätsinduzierende Wirkung. Kreative oder unkonventionelle Lösungsansätze, also Ausdruck authentischer Kompetenz, laufen Gefahr, als „abweichend“ bewertet zu werden, wenn sie nicht mit dem formulierten Horizont konvergieren. Lernende antizipieren diese Struktur, internalisieren die impliziten Erwartungen und zensieren eigene Ideen im Voraus. Reflexives, kreatives oder innovatives Denken wird auf diese Weise systematisch entmutigt. Erwartungshorizonte sind vorab definierte Bewertungsmaßstäbe, die festlegen, welche Leistungen als „richtig“ oder „erfolgreich“ gelten. Sie basieren auf einem Steuerungsmodell, das davon ausgeht, dass gewünschte Leistungen vorhersehbar sind (Rattay & Schneider, 2013). Doch genau dies widerspricht der Logik kompetenzorientierter Bildung. Die folgenden Einwände verdeutlichen die systemische Inkompatibilität: 1. **Blockade von Kreativität und Reflexion:** - Erwartungshorizonte erzeugen Performanzdruck und reduzieren die kognitive Offenheit. Sie führen dazu, dass Lernende sich auf erwartbare Lösungen konzentrieren, statt eigenverantwortlich zu handeln oder neue Denkmuster zu erproben. (Klieme et al., 2003; Erpenbeck & Sauter, 2013) 2. **Defizitorientierung und Erwartungserwartung:** - Wer nicht den Erwartungen entspricht, wird als defizitär wahrgenommen, unabhängig davon, ob das Vorgehen begründet, wirksam oder evidenzbasiert war. Dies begünstigt den Golem-Effekt; die implizite Abwertung führt zu geringerer Leistung und vermindertem Selbstvertrauen. (Rosenthal & Jacobson, 1968; Pätzold, 2022) 3. **Widerspruch zur Theorie emergenter Kompetenz:** - Nach Erpenbeck (2007), Arnold (2014) und anderen ist [[Kompetenz]] die Fähigkeit zur selbstorganisierten Bewältigung neuer, unübersichtlicher Situationen. Sie ist einerseits weder planbar und reproduzierbar, andererseits zeigt sich Emergenz im Handeln. Erwartungshorizonte, die konkrete Lösungen antizipieren, widersprechen diesem Verständnis grundlegend. 4. **Rechtslogischer Widerspruch zur NotSan-APrV:** - § 4 NotSanG verlangt evidenzbasiertes, eigenverantwortliches und situationsbezogenes Handeln. Bewertungsraster, die nur eine spezifische Lösung anerkennen, stehen dazu im Widerspruch und sind rechtlich angreifbar (Ditscheid, 2021). Dieses Verständnis lässt sich in der folgenden Kompetenzdefinition[^2] konkretisieren: > [!quote] Zitat > ![[Systemische Kompetenzentwicklung High Responsibility Teams#Kompetenzdefinition High Responsibility Teams]] # Reflexionsbasierte Prüfungen: Eine Alternative Ziel reflexionsbasierter Prüfungen ist, die subjektive Erkenntnisbewegung der Geprüften sichtbar und nachvollziehbar zu machen, sowohl im Sinne ihrer Übereinstimmung mit einer vorgegebenen Lösung, als auch hinsichtlich der Kohärenz, Plausibilität und situativen Angemessenheit ihres Denkens und Handelns. Erkenntnis wird hier als Abbild und zudem als Relation zwischen Welt, Erfahrung und innerer Neuordnung verstanden. Reflexion übernimmt dabei die Funktion, neue Zusammenhänge herzustellen, eigene Deutungen zu überprüfen und Entscheidungen zu verantworten. Reflexionsbasierte Prüfungen machen genau diesen Prozess, also die Bewegung des Denkens unter Bedingungen der Ungewissheit, folglich zum eigentlichen Gegenstand der Leistungsbewertung. ([[Erkenntnisziel]]) Diese Perspektive wird durch neuere berufsbildungstheoretische Forschung gestützt. So zeigen Schröder & Reinisch (2024), dass sich Kompetenzen auch in der „richtigen“ Antwort zeigen, und zudem in der reflexiven Bearbeitung von Situationen unter Bedingungen der Ungewissheit. Reflexion wird hier zur zentralen Bewertungsdimension als Nachdenken über Fehler und als epistemisch produktiver Zugriff auf Handlungserfahrung. Damit korrespondiert das Modell reflexionsbasierter Prüfungen direkt mit wissenschaftlichen Forderungen nach dialogischen, prozessorientierten Prüfungsformaten, die auf Transparenz, Begründungstiefe und perspektivische Anschlussfähigkeit zielen. Aus der Kritik an Erwartungshorizonten ergibt sich nicht nur ein Bedarf an Reform, sondern eine grundsätzliche Neuausrichtung. Prüfungen haben der Logik emergenter [[Kompetenzentwicklung]] zu folgen und dürfen diese nicht durch antizipierte Lösungserwartungen blockieren (Erpenbeck & Sauter, 2013; Arnold & Schüßler, 2021). Ein reflexionsbasiertes Prüfungsmodell ist daher keine methodische Variation, ein solches Modell stellt eine systemische Alternative dar. Dieses Verständnis basiert auf drei zentralen Prinzipien, die sich direkt aus dem Kompetenzverständnis nach Erpenbeck, Arnold und anderen ableiten: 1. **Situationsorientierung:** - Kompetenzen zeigen sich nicht im Reproduzieren von Wissen, sondern in der Bewältigung offener, dynamischer Herausforderungen. Prüfungen müssen daher reale oder realitätsnahe Situationen abbilden, in denen Geprüfte ihre Wahrnehmung, Analyse und Handlungsfähigkeit zeigen. - Bewertet wird nicht eine vorgegebene Lösung, sondern wie die geprüfte Person die spezifischen Transformationsbarrieren der Situation erkennt und bearbeitet - also im Sinne des reflektierten Handelns unter Unsicherheit. 2. **Reflexion:** - Da kompetentes Handeln nicht normativ eindeutig ist, kommt der Begründung eine zentrale Rolle zu. Geprüfte müssen ihre Entscheidungen rekonstruieren, begründen und auf wissenschaftliche oder empirische Grundlagen stützen. - Dialogische Formate (z. B. Fachgespräche) ermöglichen Perspektivendifferenz und eröffnen Bewertenden die Möglichkeit, auch ungewöhnliche Lösungswege nachvollziehbar und gerecht zu würdigen. 3. **Evidenzbasierung:** - Die Bewertung erfolgt nicht entlang eines impliziten Erwartungshorizonts, sondern anhand des Grades, in dem das Handeln nachvollziehbar, verantwortbar und wissenschaftlich fundiert ist. Damit wird ein Bewertungsmaßstab etabliert, der auf epistemischer Legitimität beruht und nicht auf kultureller Passung oder Systemkonformität. Reflexionsbasierte Prüfungen schaffen somit den strukturellen Rahmen, in dem emergente [[Kompetenz]] beobachtbar wird und in dem Prüfende zu Begleitenden einer reflexiven Leistungsdarstellung werden, anstatt zu Gatekeepern eines versteckten Erwartungssystems. # Leistungsbeschreibung: Alternative zum Erwartungshorizont Die folgende Übersicht kontrastiert Erwartungshorizonte und reflexionsbasierte Leistungsbeschreibungen entlang zentraler Strukturmerkmale. Dabei wird deutlich, dass Varianten derselben Logik fokussiert werden, und weiterhin grundlegend verschiedene epistemische Konzepte von Bewertung. _Tabelle 1: Vergleich Erwartungshorizont vs. Leistungsbeschreibung_ | **Kriterium** | **Erwartungshorizont** | **Leistungsbeschreibung** | | -------------------------------------- | ---------------------------------------------------- | ------------------------------------------------------------------------------ | | **Ursprung der Erwartung** | Aus Sicht der Prüfenden antizipiert (Top-down) | Auf curricularen Inhalten basierend (Inhaltsbezug) | | **Transparenz für Geprüfte** | Häufig implizit oder verkürzt kommuniziert | Zu Beginn der Ausbildung offengelegt und verhandelbar | | **Fokus der Bewertung** | Vergleich mit einer idealisierten Solllösung | Bewertung von Reflexionstiefe und Denkbewegung | | **Kriteriumsstruktur** | Ergebnisbezogen:<br>Welche Antwort ist richtig? | Zweistufig:<br>(1) Inhaltliche Tiefe,<br>(2) Anforderungsniveau | | **Steuerung der Vorbereitung** | Orientiert auf das Wiedererkennen erwarteter Inhalte | Ermöglicht gezieltes Erarbeiten von inhaltlicher Tiefe und Reflexionsfähigkeit | | **Rolle der Operatoren** | Untergeordnet oder inkonsistent | Zentral zur Operationalisierung des Reflexionsniveaus | | **Bildungsethische Fundierung** | Asymmetrisch, oft implizit machtvoll | Dialogisch, erkenntnistheoretisch fundiert | | **Risiko für Prüfungsbias** | Hoch - durch subjektive Erwartungserwartungen | Reduziert - durch transparente Struktur und inhaltliche Fundierung | | **Kompatibilität mit Kompetenzmodell** | Gering - reproduktionsorientiert | Hoch - reflexionsorientiert, auf emergente Handlungsfähigkeit ausgerichtet | Anstelle starrer Erwartungshorizonte schlägt dieses Modell die Arbeit mit systematischen Leistungsbeschreibungen vor, die auf dem Prinzip erkenntnisbasierter Reflexion beruhen. Ziel ist einerseits das Abprüfen erwarteter Inhalte, andererseits das Sichtbarmachen einer eigenständigen, nachvollziehbaren und verantwortbaren Denkbewegung, insbesondere unter Bedingungen der Ungewissheit. Leistungsbeschreibungen bestehen aus zwei zentralen Komponenten: 1. **Inhaltliche Tiefe:** - Diese bezieht sich auf den curricular ausgewiesenen Lehrgegenstand, anders gesagt, auf das, was im Verlauf der Ausbildung thematisiert, gemeinsam erarbeitet und explizit zugänglich gemacht wurde. Leistungen können nur dort erwartet werden, wo zuvor auch inhaltliche Tiefe aufgebaut wurde. Wenn etwa in einer Notfallsituation das Vorgehen bei Atemwegssicherung geprüft wird, dann muss die Anatomie, sofern sie prüfungsrelevant ist, zuvor in geeigneter Form vermittelt worden sein. Andernfalls wäre eine diesbezügliche Prüfung fachlich unangemessen und bildungslogisch unethisch. 2. **Reflexionsniveau über Operationalisierung:** - Statt Lösungen zu normieren, beschreibt die Leistungsbeschreibung das geforderte Reflexionsniveau. Das geschieht über etablierte Operatoren (wie z. B. „nennen“, „beschreiben“, „reflektieren“, „beurteilen“), die nicht das Ergebnis, sondern die Tiefe und Form der gedanklichen Auseinandersetzung markieren. Entscheidend ist dabei nicht, was gesagt wird, sondern wie begründet, eingeordnet, verantwortet und weitergedacht wird. Diese zweistufige Struktur, inhaltliche Tiefe plus reflexives Niveau, ermöglicht eine kompetenzorientierte Prüfung ohne Lösungserwartung. Sie transformiert Bewertung vom normativen Abgleich hin zur erkenntnisoffenen Beobachtung: 1. Was zeigt sich? 2. Was wurde verstanden, reflektiert, verantwortet? Die Leistung besteht nicht in der Reproduktion von Wissen, vielmehr in der Relation zwischen Gelerntem, Situation und Begründung; genau darin liegt ihr erkenntnistheoretischer Kern. Was hier in der Leistungsbeschreibung sichtbar wird, setzt sich im EBA-Zyklus fort. Eine Prüfungsarchitektur, die Denkbewegungen sichtbar macht, in der gleichzeitig Ergebnisse und Wege zählen. # Vorteile: Reflexionsbasierte Prüfungen Reflexionsbasierte Prüfungen stellen keineswegs nur eine methodische Alternative dar, vielmehr wird ein folgerichtiges Prüfungsformat im Kontext moderner Kompetenztheorie angeboten. Sie bringen Vorteile mit sich, die weit über Didaktik und Fairness hinausreichen und adressieren zentrale Anforderungen an Bildungsprozesse im 21. Jahrhundert: 1. **Stärkung von Eigenverantwortung und Urteilskraft:** - Anstelle von Reproduktion fördern reflexionsbasierte Prüfungen die Fähigkeit, begründet zu entscheiden, Verantwortung zu übernehmen und komplexe Situationen eigenständig zu analysieren, wie zentrale Merkmale professioneller Handlungskompetenz. 2. **Förderung von Kreativität und Problemlösefähigkeit:** - Unkonventionelle oder kontextspezifisch angepasste Lösungen werden nicht als Abweichung, sondern als Ausdruck reflexiver [[Kompetenz]] gewürdigt. Damit werden kreative Potenziale nicht nur erlaubt, sondern sichtbar gemacht. 3. **Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Machtkritik:** - Durch dialogische Prüfungsformate und das Fehlen starrer Bewertungsvorgaben wird das Machtgefälle zwischen Prüfenden und Geprüften reduziert. Bewertungsentscheidungen werden argumentativ einholbar und anschlussfähig, also ein bildungsethischer Zugewinn. 4. **Anschlussfähigkeit an reale Praxis:** - Die Prüfungsform orientiert sich an den Unsicherheiten, Dynamiken und Widersprüchen beruflicher Realität. Sie bereitet nicht auf das Bestehen von Prüfungen vor, sondern auf die Bewährung in offenen Handlungssituationen. Reflexionsbasierte Prüfungen leisten einen wesentlichen Beitrag zu fairen Bewertungsverfahren. Sie fördern gezielt die Fähigkeit, in komplexen Situationen verantwortlich zu handeln, und machen jene reflexive Urteilskraft sichtbar, die [[Kompetenz]] im eigentlichen Sinne auszeichnet. # Konfrontation: Weshalb an Erwartungshorizonten festhalten? Wenn Erwartungshorizonte pädagogisch, rechtlich und systemisch problematisch sind, weshalb werden sie dennoch weiterhin verwendet? Die Antwort liegt weniger in fachlichen Notwendigkeiten als in strukturellen und kulturellen Dynamiken des Bildungssystems selbst: 1. **Trugschluss der Vergleichbarkeit:** - Erwartungshorizonte erzeugen die Illusion objektiver Maßstäbe. Dabei wird übersehen, dass jede Bewertung auf vorausgesetzten Normen und selektiven Erwartungen beruht. Die scheinbare Vergleichbarkeit ersetzt echte Auseinandersetzung mit dem individuellen Leistungsgeschehen und stabilisiert ein trügerisches Gefühl von Gerechtigkeit. 2. **Reduktion von Komplexität - Bequemlichkeit durch Entlastung:** - Erwartungshorizonte verschaffen Prüfenden scheinbare Sicherheit und entlasten von der Notwendigkeit, differenzierte, reflexive Bewertungen vorzunehmen. Sie transformieren offene Handlungssituationen in beurteilbare Schemata auf Kosten der didaktischen Angemessenheit. 3. **Institutionelle Pfadabhängigkeit und systemische Trägheit:** - Bildungssysteme sind strukturell auf Standardisierung, Vergleichbarkeit und administrative Steuerbarkeit ausgerichtet. Reflexionsbasierte Prüfungen unterlaufen diese Logik. Ihre Implementierung würde ein grundlegendes Umdenken im Selbstverständnis von Bewertung erfordern, einschließlich veränderter Rollenbilder von Lehrenden und Prüfenden. 4. **Machtasymmetrie als unbenanntes Strukturprinzip:** - Erwartungshorizonte sichern implizit die Deutungshoheit der Prüfenden. Sie bestimmen nicht nur, *was* als leistbar gilt, sondern auch *wie* diese Leistung erbracht werden darf. Reflexionsbasierte Prüfungen gefährden dieses implizite Machtverhältnis und werden deshalb oft stillschweigend abgewehrt. Diese Faktoren machen deutlich, dass der Widerstand gegen reflexionsbasierte Prüfungen kein Ausdruck pädagogischer Einsicht ist, eher das Resultat kultureller Stabilisierung von Bewertungssystemen, gerade auch gegen bessere Erkenntnis. Erwartungshorizonte sind keineswegs bloß verzichtbar, sie erweisen sich als systematisch schädlich für die Entwicklung jener Kompetenzen, die in einer komplexen, dynamischen Welt gebraucht werden. Sie zementieren ein Prüfverständnis, das auf Reproduktion statt auf Reflexion setzt und verhindern damit genau jene Lernbewegungen, die moderne Bildung eigentlich ermöglichen soll. Reflexionsbasierte Prüfungen eröffnen eine Alternative, die anders fordert und dadurch mehr Verantwortung, mehr Begründung, mehr Wirklichkeitsbezug ermöglicht. Bildungseinrichtungen müssen den Mut aufbringen, sich von der Illusion objektiver Bewertbarkeit durch Erwartungshorizonte zu verabschieden. Stattdessen braucht es ein prüfungsdidaktisches Umdenken, das das Lernen als offenen, verantwortbaren Weltbezug ernst nimmt. Die Transformation von Prüfungsformaten ist daher keine bloß didaktische Reform. Vielmehr ist diese Transformation ein ethischer Imperativ gegenüber den Lernenden und gegenüber einer Gesellschaft, die auf kritisch-reflexives Handeln angewiesen ist. > [!tip] Bildung, die zukunftsfähig sein will, muss sich genau daran messen lassen. # Weitblick: Prüfungen im EBA-Zyklus **Eine erkenntnistheoretische Konsequenz** Die Abkehr von Erwartungshorizonten bedeutet mehr als eine didaktische Korrektur, sie erfordert ein grundlegend anderes Prüfungsverständnis. Eine konsequente Antwort auf diese Herausforderung bietet der [[Erkenntnisbasierter Aufgabenzyklus (EBA-Zyklus)]], der Prüfungen als systematische, erkenntnisorientierte Denkbewegungen versteht: > [!quote] Zitat > ![[Erkenntnisbasierter Aufgabenzyklus (EBA-Zyklus)#1 Definition]] Der EBA-Zyklus strukturiert somit den Weg von der Formulierung eines Erkenntnisziels über die Festlegung der Tiefe, die Auswahl passender Werkzeuge und Methoden bis hin zur reflexiven Bewertung und gegebenenfalls zur Neufassung des Erkenntnisziels. Prüfungen, die sich an diesem Zyklus orientieren, bewerten vorgefasste Ergebnisse und die Qualität, Begründung sowie epistemische Tiefe des gewählten Weges. Damit verschiebt sich dabei die Rolle der Prüfenden grundlegend. Sie begleiten den Prozess nicht aus neutraler Distanz, sie ermöglichen, beobachten und bewerten die erkenntnistheoretische Konsistenz der Denk- und Argumentationsbewegung. Die Bewertung erfolgt entlang eines normativen Solls und anhand der Frage: > [!question] Wie angemessen, begründet und verantwortlich wurde mit dem Erkenntnisziel umgegangen? Der EBA-Zyklus operationalisiert damit den Anspruch reflexionsbasierter Prüfungen; dieser geht über bloße Strukturierung hinaus und fordert Tiefe statt Reproduktion und verlagert zudem die Bewertung weg vom Ergebnis, hin zur erkenntnisoffenen Nachvollziehbarkeit. # Zusammenfassung Die Einführung reflexionsbasierter Prüfungen erfordert neue Bewertungspraktiken, veränderte Rollen der Prüfenden und eine umfassende curriculare Verankerung. Dieser Weg ist herausfordernd, aber unumgänglich. Prüfungen, die sich an Denkbewegungen statt an starren Antwortmustern orientieren, entsprechen der Logik emergenter Kompetenzentwicklung und gleichzeitig einem ethisch und erkenntnistheoretisch fundierten Bildungsverständnis. Um passende Formate, Instrumente und rechtliche Standards weiterzuentwickeln, bedarf zur Erkenntnisgewinnung zusätzlicher Forschung. Der entscheidende erste Schritt bleibt jedoch erkenntnistheoretischer Natur, Bildung über nachvollziehbare Erkenntnisprozesse und nicht über normierte Erwartungen zu definieren. # Quelle(n) - Arnold, R. (2014). Entgrenzte Bildung: Lernen im Dialog. Schneider Verlag Hohengehren. - Arnold, R., & Schüßler, I. (2021). Kompetenzentwicklung und Kompetenzmessung: Theorie und Praxis (3. Aufl.). Schneider Verlag Hohengehren. - Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter (NotSan-APrV), BGBl. I Nr. 148, S. 4280 (2023). https://www.gesetze-im-internet.de/notsan-aprv/NotSan-APrV.pdf - Bourdieu, P., & Passeron, J.-C. (1971). Die Reproduktion: Elemente für eine Theorie des Bildungssystems. Suhrkamp. - Ditscheid, T. (2021). Prüfungsrecht in der beruflichen Bildung: Grundlagen, Verfahren, Rechtsschutz. wbv Media. - Erpenbeck, J. (2007). Die Kompetenzrevolution: Der Weg zur neuen Lernkultur. Klett-Cotta. - Erpenbeck, J., & Sauter, W. (2013). Kompetenzentwicklung im Netz: New Blended Learning mit Web 2.0. Springer Gabler. - Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (NotSanG), BGBl. I S. 1348, 274 (2021). https://www.gesetze-im-internet.de/notsang/ - Hanisch, J. (2023). Agiles Lernen zur Kompetenzentwicklung für High Responsibility Teams. Wie agiles Lernen die Ausbildung im Rettungsdienst optimieren kann. GRIN Publishing GmbH. - Hopf, D. (2011). Schulische Leistungsbewertung: Theorie - Empirie - Praxis. In J. Baumert, W. Bos & R. Watermann (Hrsg.), Bildungsforschung (S. 337-351). Springer VS. - Klieme, E., Hartig, J., & Rauch, D. (2003). Messung von Kompetenzen: Herausforderungen der Bildungsforschung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6(3), 264-285. - Pätzold, H. (2022). Wörterbuch Pädagogik (9. Aufl.). UTB. - Rattay, C., & Schneider, J. (2013). Erwartungshorizonte sinnvoll gestalten und verwenden - Die fünf Gestaltungsprinzipien. In M. Fröhlich, C. Rattay & J. Schneider (Hrsg.), Effizienter korrigieren - Das Praxisbuch (Kap. 4). Auer Verlag. - Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1968). Pygmalion in the classroom: Teacher expectation and pupils’ intellectual development. Holt, Rinehart and Winston. - Schröder, S., & Reinisch, H. (2024). Reflexion und Handlungskompetenz: Prüfungsformate zwischen Messung und Dialog. In H. Reinisch & S. Schröder (Hrsg.), Qualitätsentwicklung in der Berufsbildung. Springer VS. --- #Erwartungshorizonte #Reflexion #Kompetenzorientierung #Prüfungen #Bildung #NotSan-Ausbildung #Ethik #Rechtslogik #Didaktik #Bildungsforschung [^1]: Gebot der Chancengleichheit nach Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes [^2]: Eine ausführliche Herleitung der hier verwendeten Kompetenzdefinition im Kontext systemischer Hochverantwortungsstrukturen findet sich unter dem verlinkten Abschnitt des Vortrags _„Systemische Kompetenzentwicklung in High Responsibility Teams“_.