created: 16.11.2024 | [updated]() | [publishd]() | [Austausch](https://lernen.jochen-hanisch.de/course/view.php?id=4) | [[Hinweise]] **Epistemolismus denken: Zur Sichtbarmachung wissenschaftlicher Prozesse in versionierten Erkenntnisräumen** > Epistemolismus ist ein Vertrag mit sich selbst und der Verpflichtung zu Sichtbarkeit, Rückverfolgbarkeit und epistemischer Redlichkeit aus der Einsicht heraus, dass Erkenntnis nur dann Geltung beanspruchen kann, wenn sie in ihrer Entstehung nachvollziehbar bleibt. > Dieser Vertrag ist persönlich geschlossen und öffentlich einsehbar, mit jedem Commit erneuert, mit jeder Revision bezeugt. Was sichtbar wird, ist Gedanke und die bewusste Entscheidung, verantwortlich zu sein. # Abstract Der vorliegende Text entwickelt den Begriff Epistemolismus als wissenschaftlich entwickelte Praxisform, in der Erkenntnisprozesse versioniert, reflexiv und öffentlich nachvollziehbar gestaltet werden. Ausgehend von einer kritischen Analyse tradierten wissenschaftlichen Arbeitens wird ein Zugang entfaltet, bei dem die epistemische Geltung vor allem in der strukturierten Sichtbarkeit ihrer Genese verortet wird, ohne dabei die Bedeutung des Ergebnisses auszuschließen. Der Begriff ist eine begriffliche Neuschöpfung, die formallinguistisch, erkenntnistheoretisch, formlogisch und bildungstheoretisch herleitet werden soll. Zentral ist die Annahme, dass wissenschaftliche Qualität sowohl durch Stabilität, Autorität oder Peer Review gesichert wird als auch durch dokumentierte Differenz, rekursive Reflexion und versionierbare Geltungsentwicklung. In Verbindung mit digitalen, kuratierenden Werkzeugen wie Git, Markdown, DOI-Vergabe oder E-Portfolios entsteht ein erkenntnispraktisches Modell, in dem Sichtbarkeit insbesondere als methodische Struktur verstanden wird und der Blick stärker auf die Gestaltung von Prozessen gelenkt wird. Der Text entfaltet diese Struktur in Definition, Herleitung, Anwendungsbeispielen, Forderungen, Implikationen und Kritik. Der Epistemolismus erscheint dabei als reflexive Erweiterung der bestehenden Wissenschaftskultur, ohne diese zu negieren. Erkenntnis wird als beobachtbare, rekonstruierbare Bewegung innerhalb einer digital gestützten [[Epistemosphäre]] beschrieben. # Einleitung Wissenschaft kann als kulturell, technisch und institutionell strukturierter Raum epistemischer Entscheidungen entfalte werden. Diese zeigen sich im traditionellen Wissenschaftsbetrieb vorrangig in Ergebnissen: in Artikeln, Monografien oder Prüfungsformaten. Die Entstehungsprozesse, einschließlich Umwegen, Revisionen und Modifikationen, bleiben dabei oft im Hintergrund. Doch gerade in diesen dynamischen Bewegungen liegt eine zentrale Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis. Wird Wissenschaft als Prozess verstanden, rückt die Gestaltung dieser Bewegungen ins Zentrum. Sichtbarkeit meint in diesem Zusammenhang eine strukturierte Nachvollziehbarkeit epistemischer Formbildung – mehr als bloße Offenlegung. Vor diesem Hintergrund wird in dieser Begriffsbestimmung ein Begriff eingeführt, der für diese Form des wissenschaftlichen Arbeitens eine eigene Kategorie schaffen soll: Epistemolismus. Der Begriff ist eine bewusste Neuschöpfung. Er beschreibt keine Lehre, kein Dogma, keine Schule, sondern eine wissenschaftliche Praxisform. Diese Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass sie Erkenntnis als fortlaufend versionierte Bewegung sichtbar hält, Aussagen im Kontext ihrer Entstehung dokumentiert und Geltung als rekonstruktiv nachvollziehbaren Prozess versteht. Wissenschaftliche Integrität zeigt sich besonders in der dokumentierten Form der Erkenntnisentstehung. Genau hier setzt der Epistemolismus an: Er entfaltet sich als Erweiterung bestehender Formate und bringt eine Praxis zur Geltung, die in vielen Bereichen bereits Anwendung findet. Diese Praxis lässt sich als reflektiertes, versioniertes und öffentlich nachvollziehbares Denken im digitalen Raum beschreiben – nun erstmals systematisch begrifflich gefasst. Die folgende Darstellung entwickelt den Begriff systematisch. Sie beginnt mit einer begrifflichen Definition, führt durch formale, theoretische und formlogische Herleitungen und erschließt konkrete Umsetzungsmöglichkeiten in wissenschaftlichen und bildungspraktischen Kontexten. Die Darstellung schließt mit einer Analyse der Implikationen und möglichen Kritikpunkte. Ziel ist es, eine fundierte Grundlage für die Weiterentwicklung einer wissenschaftlichen Praxis zu schaffen, in der Erkenntnis als strukturierte und beobachtbare Bewegung begriffen wird. Der Epistemolismus ist in diesem Sinne keine Antwort, sondern ein Verfahren zur Sichtbarmachung der Fragen, in denen Wissenschaft beginnt. # 1 Definition Epistemolismus ist eine Form wissenschaftlicher Praxis. Erkenntnisprozesse gelten dabei als sichtbar zu haltende, versionierbare und reflexiv dokumentierte Denkbewegungen. Die Praxis orientiert sich an einer Haltung, die den Weg des Denkens ebenso relevant fasst wie seine Formulierung. Erkenntnis erscheint als Prozess mit Anschlussfähigkeit, begründet durch dokumentierte Entscheidungen, Revisionen und Kontextverweise. Epistemolisches Arbeiten erfolgt auf Grundlage strukturierender Medien wie Git, Markdown und kuratierter E-Portfolios. Die Form ist geprägt durch Rückverfolgbarkeit, methodische Selbstvergewisserung und dialogische Öffnung. Wissenschaft zeigt sich im epistemolischen Verständnis als nachvollziehbare Bewegung innerhalb situierter, sprachlich gefasster und technisch dokumentierter Kontexte. Die Orientierung am epistemolischen Prinzip stärkt die Verantwortung für die Gestaltung des Erkenntnisprozesses. Sie ermöglicht Resonanz und kritische Teilhabe auf Basis nachvollziehbarer Entwicklungspfade. **Epistemolismus $E := \text{trace}(\Delta,\text{d} : \mathbb{K})$** _(Erkenntnis als Spur von Denkbewegung $\Delta,\text{d}$ im Kontextraum $\mathbb{K}$)_ mit: - $\Delta,\text{d}$ = versionierte Differenz, - $\text{trace}$ = dokumentierte Struktur, - $\mathbb{K}$ = situiertes Zusammenspiel von Sprache, Technik, Reflexion. Damit bewegt sich Epistemolismus im Spannungsfeld erkenntnistheoretischer, bildungswissenschaftlicher und medienpraktischer Diskurse. Die Praxis steht in Verbindung mit reflexiven Formen wissenschaftlicher Selbstbeobachtung, mit digital gestützter Dokumentation und mit didaktischen Konzepten, die auf Sichtbarkeit und Beteiligung zielen. Der Begriff steht quer zu klassischen Wissenschaftsverständnissen und öffnet einen Rahmen, in dem Erkenntnis als gestaltbare, gemeinsam nachvollziehbare Bewegung erscheint. # 2 Herleitung Bestehende sprachliche Einheiten bilden die Grundlage des hier eingeführten Begriffs. Die Herleitung folgt dabei einer systematischen Zerlegung und einer begründeten Neuschöpfung auf der Ebene sprachlicher Morphologie und diskursiver Anschlussfähigkeit. Zunächst ist der Begriff in zwei Bestandteile zerlegbar. Das Präfix _epistemo-_ verweist auf das griechische _epistēmē_ (ἐπιστήμη), das mit Erkenntnis oder Wissen übersetzt werden kann. Das Suffix _-lismus_ ist ein in der deutschen Wissenschaftssprache etabliertes Wortbildungsmuster zur Bezeichnung von Haltungen, Praxisformen oder systematischen Orientierungen. Entsprechende Beispiele sind Konstruktivismus, Strukturalismus oder Pragmatismus. Die Wortbildung _Epistemolismus_ steht damit formal für eine bestimmte Form oder Haltung im Umgang mit Erkenntnis. Die Neuschöpfung erfolgt vorrangig aus einem methodischen und theoretischen Anspruch heraus, dem auf begrifflicher Ebene Ausdruck verliehen werden soll. Epistemolismus ist lexikalisch noch zu etablieren, und wird auf Basis der vorhandenen Wortbildungsmuster klar erschlossen. Die Struktur des Begriffs ist anschlussfähig an den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und in ihrer sprachlichen Logik konsistent. Der Begriff ist damit produktiv integrierbar und geeignet, eine distinkte Praxisform begrifflich zu fassen. ## 2.1 Theoretisch-konzeptionelle Herleitung Die theoretisch-konzeptionelle Herleitung des Begriffs Epistemolismus erfolgt über seine Beziehung zu bestehenden erkenntnistheoretischen, wissenschaftslogischen und bildungspraktischen Feldern sowie über die begriffliche Setzung einer eigenständigen Praxisform. Der Begriff positioniert sich im Übergang von Theorie zu Praxis, von Analyse zu Gestaltung, von Beschreibung zu Sichtbarmachung. In begrifflicher Nähe steht die Epistemologie als philosophische Disziplin, die sich mit den Bedingungen, Formen und Geltungsansprüchen von Erkenntnis beschäftigt (vgl. Steup, 2018). Ferner ist der Begriff Episteme im Sinne Michel Foucaults einschlägig, der damit historisch strukturierte Möglichkeitsräume des Denkens beschreibt, in denen bestimmte Aussagen als wissbar gelten (Foucault, 1973/2001). Der Konstruktivismus erweitert dieses Feld um die Annahme, dass Wirklichkeit nicht objektiv erkennbar, sondern kognitiv konstruiert ist (von Glasersfeld, 1995). Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine epistemische Perspektive, die auf Abbildung und auf Relationalität sowie Kontextualität beruht. Auch zur Open-Science-Bewegung bestehen Bezüge. Diese betont die Transparenz, Offenheit und Kollaboration in der wissenschaftlichen Praxis, insbesondere durch digitale Infrastrukturen (Fecher & Friesike, 2014). Ergänzt wird dieser Horizont durch Konzepte der Reflexionspädagogik, die auf Selbstbeobachtung, Dokumentation und Rückkopplung von Lern- und Denkprozessen zielen (Bauer et al., 2021; Tremel, 2016). Die begriffliche Setzung des _Epistemolismus_ geht über diese bestehenden Perspektiven hinaus. Der Begriff bezeichnet eine epistemologisch informierte, methodisch fundierte und technisch gestützte Praxisform, in der Erkenntnis gedacht, sichtbar gemacht und versioniert wird. Die spezifische Differenz liegt in der systematischen Gestaltung und Dokumentation epistemischer Prozesse unter Einsatz medienintegrierter Formate. Der Epistemolismus erweitert damit den Geltungsbereich von Wissenschaft, indem er deren Entstehungsbedingungen und Denkverläufe strukturell nachvollziehbar hält. ## 2.2 Systemisch-funktionale Herleitung Die systemisch-funktionale Herleitung des Begriffs Epistemolismus bezieht sich auf die Frage, welche Funktion dieser Begriff im Gefüge wissenschaftlicher Praxis erfüllt. Im Vordergrund steht dabei eine begriffliche Abgrenzung und eine strukturtheoretische, handlungspraktische Bestimmung epistemischer Prozesse im Rahmen wissenschaftlicher, institutioneller und technologischer Kontexte. Aus systemtheoretischer Perspektive (Luhmann, 1990) ist Wissenschaft ein soziales System, das durch rekursive Kommunikation operiert. Erkenntnis entsteht dort als Abbildung von Welt, insbesondre als intern differenzierter Sinnbildungsprozess, der eigenen Codes, Medien und Operationen folgt. In diesem Kontext erfüllt der _Epistemolismus_ die Funktion, jene Kommunikationsformen sichtbar zu machen, die vor der formalen Stabilisierung wissenschaftlicher Aussagen liegen. Er markiert das Resultat, sowie den Weg als eigenständige, reflexionsbedürftige epistemische Einheit. In der funktionalen Logik wissenschaftlicher Institutionen werden Vorstufen von Erkenntnis häufig unsichtbar gehalten – etwa in der Ausblendung von Entwürfen, Umformulierungen, Scheitern oder subjektiver Perspektivität (Knorr Cetina, 1981). Epistemolismus greift diese blinden Flecken auf, indem er Prozesse wie Versionierung, Kommentierung, Kontextualisierung und Revision nicht als technische Nebenprodukte, sondern als konstitutive epistemische Operationen versteht. Damit erhält der Begriff Anschluss an aktuelle Diskussionen um Open Science, reproducible research und die infrastrukturelle Rückverfolgbarkeit von Erkenntnis (Fecher & Friesike, 2014; Kitchin, 2014). Der Unterschied liegt jedoch darin, dass der Epistemolismus die institutionelle Offenheit betont sowie die methodologische Verantwortung für Sichtbarkeit, Kontextualisierung und dialogische Anschlussfähigkeit einfordert. Seine Funktion besteht darin, wissenschaftliches Denken nicht nur performativ zu strukturieren, sondern auch reflexiv zu dokumentieren und öffentlich zu halten. Auch im Kontext bildungstheoretischer Betrachtungen zeigt sich die Funktionalität des Begriffs. Bildung wird hier als Inhaltsvermittlung verstanden und als transformative Selbst- und Weltverhältnisklärung (Koller, 2012) ausgeführt. Der Epistemolismus erweitert dieses Verständnis um die mediale, technische und sprachliche Dimension epistemischer Selbstverhältnisse. Er schafft Bedingungen, unter denen Subjekte ihre Denkprozesse sichtbar machen, verhandeln und verantworten können, bspw. in Form versionierter E-Portfolios, reflexiver Schreibsysteme oder digital dokumentierter Lernpfade. Epistemolismus erfüllt hierdurch systemisch die Funktion, wissenschaftliche Kommunikation um jene Formen zu erweitern, die gleichzeitig Ergebnis, Prozess, Objekt, Weg, Repräsentation und Entstehung adressieren. Er transformiert bestehende Strukturen, indem er epistemische Vorfelder als relevante Zone wissenschaftlicher Geltung etabliert und diese in einer dokumentierbaren, reflexiven und kollektiv anschlussfähigen Weise sichtbar hält. ## 2.3 Radikaler Epistemolismus Der radikale Epistemolismus beschreibt eine Haltung und Praxis, die epistemische Prozesse strukturell sichtbar, reflexiv rekonstruierbar und kollektiv zugänglich macht. Die Radikalität dieses Ansatzes liegt in der Entscheidung, Erkenntnisprozesse als Gegenstand theoretischer Beschreibung zu behandeln und zudem als methodisch realisierte Formvollzüge zu verstehen, die dokumentiert, versioniert und rückverfolgbar gemacht werden. Der Begriff „radikal“ verweist im ursprünglichen Sinne auf das Lateinische *radix* (Wurzel). In diesem Verständnis meint Radikalität auf eine normative Zuspitzung hinzuwirken, die eine methodische Grundlegung epistemischer Prozesse an ihrer operativen Basis (vgl. Luhmann, 1990, S. 76) ermöglichen. Die Erkenntnis wird auf ihre grundlegenden Operationen zurückgeführt, nämlich das Unterscheiden, Markieren, Wiedereingeben und Transformieren. Diese Prozesse werden im Sinne von Spencer-Brown (1969) verstanden, dessen Formlogik das Setzen einer Unterscheidung als den elementaren Akt der Erkenntnis definiert. In dieser Lesart bedeutet Epistemolismus die bewusste Gestaltung, Reflexion und Versionierung von Denkprozessen. Die Setzung eines Gedankens wird sichtbar gemacht, sein Weg rekonstruiert, seine Veränderung dokumentiert. Diese Sichtbarkeitsstruktur bildet den Kern der epistemolischen Haltung. Erkenntnis wird als Prozess gedacht, als Zustand (vgl. Varela, 1990), und sie wird in einer Form strukturiert, die Re-Eingabe, Kontextualisierung und Differenzierung erlaubt. Der epistemolische Zugang unterscheidet sich damit von klassischen epistemologischen Modellen, in denen Geltung auf Stabilität, Objektivität oder normativer Autorität beruht. Stattdessen folgt der radikale Epistemolismus einer wissenschaftlichen Praxisform, die epistemische Geltung aus der nachvollziehbaren Genese von Erkenntnis herleitet (vgl. Rheinberger, 1997, S. 28). Wahrheit steht als Fixpunkt im Zentrum, die dokumentierte Bewegung epistemischer Setzungen im offenen System wird durch digitale Versionierung erfahrbar. Diese Praxis nutzt digitale Infrastruktur als Medium und als konstitutives Element einer neuen Form epistemischer Selbstbeobachtung. Versionierungssysteme, Markdown-Formate, referenzierbare Webplattformen und kollaborative Werkzeuge schaffen einen Möglichkeitsraum, in dem Erkenntnis entsteht und zudem sichtbar bleibt. Die technologische Medialität wird epistemologisch funktionalisiert (vgl. Koller, 2012). Der radikale Epistemolismus ist damit keine Theorie im engeren Sinne, sondern ein konzeptuell-methodisches Dispositiv. Er integriert formlogische Grundlagen (Spencer-Brown, 1969), systemtheoretische Selbstreferenz (Luhmann, 1990), biologische Kognitionstheorie (Varela, 1990) und historische Epistemologie (Rheinberger, 1997) zu einer rekursiv strukturierten Praxis wissenschaftlicher Selbstartikulation. ## 2.4 Mathematische Modellierung Der Begriff Epistemolismus beschreibt eine wissenschaftliche Praxisform, in der die Sichtbarmachung, Rückverfolgbarkeit und Reflexion von Erkenntnisprozessen strukturell ermöglicht wird. Um diese Dynamik auch formal zu beschreiben, bietet sich die Modellierung epistemischer Vollzüge als komplexe Struktur im mathematischen Sinne an. Die Verwendung komplexer Zahlen erlaubt die unterschiedliche Anteile eines Erkenntnisprozesses darstellbar zu machen, ohne dabei auf eindimensionale Modelle der Wissensproduktion zurückzugreifen. Gerne, hier ist die Passage affirmativ umformuliert, mit positiver Tonalität und wissenschaftlicher Klarheit: Ausgangspunkt ist die Annahme, dass jede wissenschaftliche Aussage $A$ sowohl sichtbar dokumentierte und reflexiv rekonstruierbare Anteile $R$ als auch subjektiv kontextualisierte, kaum vollständig formal explizierbare Anteile $I$ umfasst. Diese Struktur lässt sich präzise in der Form einer komplexen Zahl ausdrücken (vgl. Formel (1)): $ A = R + iI \tag{1} $ Der reelle Anteil $R$ bildet jene Komponenten wissenschaftlicher Praxis ab, die sich etwa in Commit-Historien, kommentierten Versionen, reflexiven Textpassagen oder klar strukturierten Argumentationsverläufen dokumentieren lassen. Der Imaginärteil $I$ ergänzt diese Struktur um jene Aspekte, die durch Intuition, Erfahrung, Sprachsinn, Lebenskontext oder leibliche Welthaltigkeit geprägt sind. Auch wenn sich diese Anteile vollständig objektivieren lassen würden, tragen sie wesentlich zur epistemischen Wirksamkeit wissenschaftlicher Aussagen bei und erweitern den Geltungsraum um eine kulturell und erkenntnistheoretisch bedeutende Dimension (vgl. Rheinberger, 1997; Varela, 1990). Der Betrag $T$ dieser komplexen Aussage beschreibt deren epistemische Transparenz. Diese Größe wird einerseits durch die Absolutheit einer Wahrheit bestimmt, andererseits durch die rekonstruktive Nachvollziehbarkeit des Erkenntnisverlaufs (vgl. Formel (2)) konstruiert: $ T = |A| = \sqrt{R^2 + I^2} \tag{2} $ Je höher der Wert $T$, desto stärker ist der epistemische Prozess insgesamt sichtbar gemacht. Beide Anteile – der dokumentierte Verlauf ($R$) und der kontextuelle Gehalt ($I$) – tragen zum epistemischen Gesamtwert bei. Die modellhafte Symmetrie dieser Komponenten verweist auf die Gleichwertigkeit sichtbarer und unsichtbarer Erkenntniselemente im epistemolischen Verständnis. Die epistemische Richtung eines Denkprozesses lässt sich durch das Argument $\theta$ bestimmen. Dieser Winkel ergibt sich aus dem Verhältnis von Imaginär- zu Reellanteil und beschreibt die Orientierung einer Erkenntniseinheit innerhalb des wissenschaftlichen Möglichkeitsraums (vgl. Formel (3)): $ \theta = \arctan\left(\frac{I}{R}\right) \tag{3} $ Das Argument $\theta$ beschreibt damit, wie stark ein Denkprozess formalisiert und dokumentiert ist ($\theta$ nahe null) oder wie sehr er sich auf implizite, kreative oder subjektive Anteile stützt ($\theta$ nahe $\frac{\pi}{2}$). Dieser Wert ist normativ zu verstehen und als Richtungsindikator innerhalb einer komplexen Epistemosphäre, in der unterschiedliche Erkenntnisformen koexistieren (vgl. Luhmann, 1990; Koller, 2012). Die Verwendung der komplexen Zahl als Modell erlaubt eine formale Annäherung an das Spannungsverhältnis zwischen explizitem Wissen und impliziter Welthaltigkeit. Sie verdeutlicht, dass epistemische Geltung aus der Eliminierung kontextueller Anteile, sowie durch deren strukturierte Sichtbarmachung und relationale Verortung, entsteht. ## 2.5 Formlogische Herleitung Die formlogische Herleitung des Begriffs Epistemolismus orientiert sich an der elementaren Operation des Unterscheidens, wie sie George Spencer-Brown in *Laws of Form* beschrieben hat. Jede Form entsteht durch das Setzen einer Unterscheidung. Diese Operation erzeugt eine Differenz zwischen dem, was in die Form eingeht, und dem, was ausgeschlossen bleibt. Spencer-Brown notiert diesen Akt als Zeichnung einer „Mark“, dargestellt durch einen offenen Kreis. Diese grafische Form ist keine Metapher, sondern eine logische Setzung, durch die ein epistemischer Raum eröffnet wird (Spencer-Brown, 1969, S. 1). Die ursprüngliche Markierungsoperation lautet (vgl. Formel (4)): $ \bigcirc \tag{4} $ Sie bezeichnet die Konstitution eines sichtbaren Bereichs durch eine epistemische Grenze. Für die epistemolische Praxis bedeutet dies, dass jeder dokumentierte Gedanke, jede versionierte Notiz, jede reflektierte Passage Ausdruck einer solchen Markierung ist. Die epistemische Sichtbarkeit erscheint als Folge einer Formsetzung. Wird diese Unterscheidung selbst zum Gegenstand weiterer Beobachtung, kehrt die Form in sich zurück. Spencer-Brown beschreibt dies als Re-entry (vgl. Formel (5)): $ \bigcirc(\bigcirc) \tag{5} $ Im epistemolischen Verständnis entspricht dies der Reflexion eines markierten Gedankens. Der Denkprozess wird dokumentiert, beobachtet und kontextualisiert. Versionslogik, Kommentarzeilen oder Reflexionseinträge bilden solche Re-entry-Strukturen. Damit wird das Gedachte sichtbar und das Denken über das Denken (Luhmann, 1990; Varela, 1990). Wenn ein Übergang in einen neuen Denkraum stattfindet, durch Revision, Perspektivwechsel oder einen Paradigmenbruch, führt dies zur folgneder Transformation der Markierung (vgl. Formel (6)): $ \bigcirc \longrightarrow \bigcirc' \tag{6} $ Diese Cross-Operation steht für epistemische Verschiebungen. Sie markiert den Punkt, an dem ein bestehender Geltungsraum verlassen und durch einen neuen ersetzt wird. Dies geschieht im epistemolischen System beispielsweise bei Neufassungen, Kommentierungen früherer Versionen oder durch das Setzen kontrastierender Deutungsangebote (Rheinberger, 1997). Die epistemolische Praxis bildet Einzelmarken sowie sequenzielle Formketten. Versionierung erzeugt eine strukturierte Zeitlichkeit epistemischer Setzungen (vgl. Formel (7)): $ \bigcirc_1 \rightarrow \bigcirc_2 \rightarrow \bigcirc_3 \tag{7} $ Jede neue Markierung verweist auf die vorherige, enthält deren Kontextualisierung und erzeugt Anschlussfähigkeit für neue Beobachtungen. Diese Dynamik bildet eine epistemosphärische Spur, in der Erkenntnis als dokumentierte Differenz auftritt. Die folgende Zuordnung verdeutlicht zentrale Operationen: | Epistemolischer Vollzug | Spencer-Brownsche Form | Bedeutung im Erkenntnisprozess | |--------------------------------------------|------------------------------------|---------------------------------------------------------| | Sichtbarmachung eines Gedankens | $\bigcirc$ | Eröffnung eines epistemischen Raumes | | Reflexion über eine Markierung | $\bigcirc(\bigcirc)$ | Re-entry: Beobachtung zweiter Ordnung | | Perspektivwechsel / Revision | $\bigcirc \longrightarrow \bigcirc'$ | Cross: epistemische Transformation | | Versionierung als Abfolge | $\bigcirc_1 \rightarrow \bigcirc_2$| Historisierte Entwicklung epistemischer Formen | Diese formlogische Herleitung zeigt, dass Epistemolismus die methodische Praxisform ist, die auf einer präzise beschreibbaren Logik der Unterscheidung, Wieder-Eingabe und Verschiebung basiert. Die Verwendung der Spencer-Brownschen Symbolik erlaubt somit, diese Prozesse darzustellen, ohne sie auf lineare Aussagen zu reduzieren. Erkenntnis erscheint als Formprozess – reflexiv, markiert, rekonstruierbar und transformierbar. ## 2.6 Symbolischer Kalkül Die epistemolische Praxis beruht auf Operationen, die durch Wiederholung, Rekursion und Kontextualisierung gekennzeichnet sind. Diese Operationen lassen sich in einem symbolischen Kalkül ausdrücken, der auf der Formlogik nach Spencer-Brown basiert. Die grundlegende Setzung einer Unterscheidung bildet dabei die elementare Handlung. Erkenntnis entsteht als Form, die sich durch eine Grenze strukturiert und zugleich eine neue Differenz etabliert (Spencer-Brown, 1969). Die erste gültige Operation innerhalb dieses Kalküls ist die Setzung einer epistemischen Markierung (vgl. Formel (8)): $ A_1 := \bigcirc \tag{8} $ Diese Form bezeichnet die Sichtbarmachung eines Gedankens. Sie eröffnet einen epistemischen Raum. Die Position dieser Markierung ist der Anfang eines dokumentierten Denkprozesses im Sinne epistemolischer Praxis (vgl. Formel (8)). Wird die gesetzte Markierung selbst erneut zum Gegenstand der Beobachtung, ergibt sich eine Operation höherer Ordnung. Spencer-Brown beschreibt diesen Prozess als Re-entry. Die Form kehrt in sich zurück (vgl. Formel (9)): $ A_2 := \bigcirc(\bigcirc) \tag{9} $ Im epistemolischen Denken stellt dies den Moment der dokumentierten Reflexion dar. Eine frühere Version wird wieder aufgegriffen, um innerhalb ihres eigenen Markierungsraumes reflektiert zu werden. Dies ermöglicht Versionierung als Aneinanderreihung, d.h. als strukturierte Geschichte epistemischer Entscheidungen (Luhmann, 1990) (vgl. Formel (9)). Innerhalb eines solchen Systems führt eine Verschiebung der Markierung, durch Transformation, Kontrastsetzung oder Reinterpretation, zu einer Übergangsoperation, die als "Cross" bezeichnet werden kann (vgl. Formel (10)): $ A_3 := \bigcirc \longrightarrow \bigcirc' \tag{10} $ Diese Bewegung beschreibt einen Wechsel der epistemischen Konfiguration. Die neue Markierung $\bigcirc'$ bezieht sich auf die vorhergehende, ersetzt sie jedoch nicht, sondern konstituiert einen eigenständigen Denkraum. Dies entspricht einem Paradigmenwechsel im Sinne einer beobachtbaren epistemischen Repositionierung (Rheinberger, 1997) (vgl. Formel (10)). Die zeitliche Dimension epistemischer Dynamik wird durch eine Abfolge von Markierungen dargestellt. Jede Version entspricht einer neuen epistemischen Setzung mit Bezug auf ihren Vorzustand (vgl. Formel (11)): $ \bigcirc_1 \rightarrow \bigcirc_2 \rightarrow \bigcirc_3 \tag{11} $ Diese Kette markierter Formen beschreibt Entwicklung und Differenzierung. Die Kohärenz epistemischer Arbeit zeigt sich zudem in Stabilität sowie in dokumentierter Veränderung (Koller, 2012) (vgl. Formel (11)). Ein vollständiger Zyklus epistemolischen Arbeitens umfasst Markierung, Reflexion, Revision und erneute Reflexion. Dies lässt sich im Kalkül als iterativer Bewegungsraum ausdrücken (vgl. Formel (12)): $ \bigcirc_i \Rightarrow \bigcirc(\bigcirc_i) \Rightarrow \bigcirc_i' \Rightarrow \bigcirc(\bigcirc_i') \tag{12} $ Diese Schleife steht für die Rekursion epistemischer Geltung. Somit entsteht eine dynamische Struktur, in der Beobachtung, Geltung und Reflexion miteinander verschaltet sind. Erkenntnis zeigt sich darin sowohl als Zustand, als auch als strukturierter Übergang. Der epistemolische Kalkül stellt diese Übergänge dar, um sie zu fixieren und damit ihre Beweglichkeit nachvollziehbar zu machen (vgl. Formel (12)). ## 2.7 Beispiele Die bislang entwickelten begrifflichen, theoretischen und formstrukturellen Grundlagen des Epistemolismus entfalten ihre Wirksamkeit im Modus abstrakter Reflexion sowie vor allem in der konkreten Ausgestaltung wissenschaftlicher Praxis. Die folgenden Beispiele zeigen, wie epistemolische Prinzipien wie Sichtbarkeit, Versionierung, Re-entry, Kontextualisierung und reflexive Selbstbeobachtung methodisch und technisch umgesetzt werden können. Dabei wird epistemische Geltung durch das Ergebnis bestimmt und durch die dokumentierte Bewegung, in der dieses Ergebnis zustande kommt. Erkenntnis erscheint hier einerseits als Zustand, andererseits als differenziell rekonstruierbare Form d.h. situiert in digitalen Infrastrukturen, strukturiert durch technologische Medien und beobachtbar in ihrer Genese. Die Auswahl der Beispiele folgt keiner taxonomischen Ordnung, sondern illustriert unterschiedliche Umsetzungsformen epistemolischer Praxis in Forschung, Lehre und curricularer Gestaltung. Gemeinsam ist ihnen der Anspruch, Denkprozesse zudem zu vollziehen und damit strukturell sichtbar zu machen; als dokumentierte Spur epistemischer Entscheidungen, als verantwortete Form wissenschaftlicher Selbstbeobachtung. ### 2.7.1 Git-basierte Forschungsnotizen Die Nutzung von Git zur Strukturierung, Versionierung und Veröffentlichung wissenschaftlicher Notizen stellt eine paradigmatische Realisierung epistemolischer Prinzipien dar. Git-basierte Forschungsnotizen machen den Denkprozess dokumentierbar und rekonstruierbar, kontextualisierbar sowie reflexiv bearbeitbar. Sie ermöglichen damit eine Form epistemischer Sichtbarkeit, die über klassische Endpublikationen hinausgeht. Der epistemolische Wert ergibt sich aus der technischen Struktur des Git-Systems selbst: - **Markierung**: Jeder Commit entspricht einer Setzung epistemischer Geltung ($\bigcirc$). Er dokumentiert eine spezifische Formulierungsentscheidung in einem bestimmten Kontext. - **Versionierung**: Die fortlaufende Commit-Historie bildet eine Folge von Denkzuständen ab ($\bigcirc_1 \rightarrow \bigcirc_2 \rightarrow \dots$). - **Re-entry**: Durch Branching, Merge und Rebase können frühere Gedankengänge aufgegriffen, modifiziert oder kontextualisiert werden ($\bigcirc(\bigcirc)$). - **Cross**: Forks und divergierende Branches markieren diskursive Alternativen oder Revisionen ($\bigcirc \longrightarrow \bigcirc'$). Die Form entspricht dabei der formlogischen Struktur epistemischer Bewegung im Sinne Spencer-Browns (1969) und wird durch die Revisionsgeschichte materialisiert. Git-gestützte Forschungsprozesse machen deutlich, dass Wissenschaft Resultate produziert, Denkprozesse, Entscheidungen und Alternativen dagegen strukturiert und versioniert (vgl. Rheinberger, 1997). Die Praxis der Git-basierten Forschungsnotiz erlaubt darüber hinaus: - **rekursive Selbstbeobachtung** durch Commit-Kommentare und Commit-Vergleiche - **kollektive Beteiligung** durch Forks, Pull Requests und Kommentare - **transparente Formanalyse** durch Blame-, Diff- und Tree-Ansichten - **formale Anschlussfähigkeit** an andere epistemische Räume (z. B. Webseiten, Repositorien, Portfolios) Insofern ist das Git-System einerseitsein Code-Werkzeug, andererseits ein epistemisches Medium, das die Struktur epistemolischer Erkenntnisproduktion in einer präzise versionierten Form sichtbar macht. Die Verknüpfung mit Markdown und Webpublikation verstärkt diesen Effekt und transformiert die Idee wissenschaftlicher Autorenschaft zugunsten prozessorientierter Geltungsbildung (vgl. Koller, 2012; Varela, 1990). ### 2.7.2 Wahrhaftige E-Portfolios mit versionierter Reflexionsstruktur Ein epistemolisch gestaltetes E-Portfolio unterscheidet sich grundsätzlich von rein darstellungsorientierten Sammlungen digitaler Artefakte. Dies ist keine bloße Ablage von Ergebnissen, sondern ein reflexiver Erkenntnisraum, der Denkprozesse sichtbar hält. Dies geschieht durch dokumentierte Selbstbeobachtung, durch historisierbare Versionsstände und durch die strukturierte Kommentierung epistemischer Übergänge. #### Strukturmerkmale: - **Versionierte Entwicklungsphasen**: Jede Eintragung (Text, Skizze, Video, Annotation) erhält eine Zeitmarke und Kontextbeschreibung. So wird die Geltung der Einträge historisch lesbar. - **Reflexionslogik**: Einträge enthalten nicht nur Inhalte, sondern auch Meta-Reflexionen (Warum wurde etwas verändert? In welchem Denkzusammenhang? Mit welchen Zweifeln oder Revisionen?). - **Kommentierbarkeit und Anschlussfähigkeit**: Peer- oder mentorengestützte Rückmeldungen greifen nicht inhaltlich ein, sondern reflektieren auf Form und Entwicklung. Kommentare sind Teil des Erkenntnisprozesses, nicht dessen Beurteilungsinstanz. - **Re-entry-Muster**: Frühere Einträge werden wiederaufgerufen, neu kontextualisiert, in Frage gestellt. Jede Schleife erzeugt eine höhere Ordnungsstruktur der Selbstbeobachtung – sichtbar gemacht durch interne Verlinkung, Tagging oder iterative Strukturierung. #### Beispielhafte Formstruktur eines Eintrags: |Ebene|Inhalt| |---|---| |Markierung|Thema oder Problemstellung (erste epistemische Setzung)| |Kontextualisierung|Warum dieser Gedanke zu diesem Zeitpunkt wichtig erscheint| |Reflexion (1. Loop)|Erste Einschätzung der Gültigkeit / Kohärenz| |Peer-Kommentar|Rückmeldung einer anderen Perspektive| |Re-entry (2. Loop)|Veränderung des Beitrags mit Metakommentar zur Transformation| |Versionsvermerk|Zeitstempel + Begründung der Revision| #### Epistemologische Bedeutung: Dieses E-Portfolio-Modell geht über die bloße Abbildung epistemologischer Arbeit hinaus und setzt sie operativ um und bietet Lernenden die Möglichkeit, ihre Denk- und Deutungsprozesse zu dokumentieren und Reflexionsschleifen explizit zu machen. Auf diese Weise wird Geltung nicht nur behauptet, sondern aktiv hergestellt. (vgl. Varela, 1990; Koller, 2012; Ziebarth, 2019). ### 2.7.3 Reflexive Logbücher und Forschungstagebücher Reflexive Logbücher und digital geführte Forschungstagebücher bilden eine elementare Praxis epistemolischen Arbeitens. In ihnen werden Gedanken sowohl festgehalten als auch beobachtet, kommentiert und in ihren Entstehungszusammenhängen sichtbar gemacht. Damit verschieben sie den Fokus wissenschaftlicher Dokumentation vom Nachweis zur Nachvollziehbarkeit, von der Fixierung zur Formgeschichte. Im epistemolischen Sinn fungiert das Forschungstagebuch als strukturierter Raum rekursiver Erkenntnisprozesse. Jede Eintragung stellt eine Markierung dar ($\bigcirc$), ein unterscheidendes Setzen eines Gedankens in einem konkreten Denkzusammenhang. Die kontinuierliche Reflexion über vorangegangene Einträge erzeugt Re-entry-Strukturen ($\bigcirc(\bigcirc)$), in denen Denkbewegungen sichtbar werden – etwa durch neue Einschätzungen, ergänzende Perspektiven oder korrigierende Korrekturen. Der zeitliche Verlauf erzeugt eine sequenzielle Versionierung ($\bigcirc_1 \rightarrow \bigcirc_2 \rightarrow \dots$), deren Ziel narrative Geschlossenheit, genauer prozessuale Kohärenz ist. Denken manifestiert sich in diesem Medium als fortlaufend strukturierte Bewegung mit offenem Erkenntnispotenzial. Reflexive Logbücher entfalten ihr epistemolisches Potenzial besonders dann, wenn sie: - **zeitlich kohärent** geführt werden (z. B. durch tägliche oder sitzungsgebundene Einträge), - **mit Reflexionsmetadaten** angereichert sind (z. B. Anlass, Unsicherheit, Denkverzweigung), - **re-entry-fähig** gestaltet sind (z. B. durch Verweise auf frühere Einträge, Revisionen, Kommentarspalten), - **versionierbar** aufgebaut sind (z. B. durch digitale Werkzeuge wie Obsidian, Git oder Wikisysteme). Diese Form epistemischer Praxis macht Denkentwicklung rekonstruierbar und eröffnet Anschlussfähigkeit für spätere Selbstbeobachtung oder kollaborative Forschung (vgl. Varela, 1990; Rheinberger, 1997). Anders als klassische Labortagebücher, die auf Objektivität und Messbarkeit orientiert sind, zielt das epistemolische Logbuch auf Selbstreferenz, Kontextualität und Sichtbarmachung epistemischer Übergänge. Dabei entsteht kein neutraler Dokumentationsraum, sondern eine dialogische Struktur zwischen Denkendem und Denkform. Die rekursive Beobachtung eigener Erkenntnisakte erlaubt deren spätere Analyse, die im Vollzug selbst die epistemische Struktur erzeugt. Erkenntnis erscheint hier zugleich als reflexiv begleitet und als reflexiv konstituiert. ### 2.7.4 Open Science-Projekte mit Fork- und Merge-Strukturen Open Science-Projekte, die auf verteilten Versionskontrollsystemen basieren und Fork- sowie Merge-Strukturen integrieren, realisieren eine epistemolische Praxis in kollektivierter Form. Erkenntnis entfaltet sich dabei durch ein Netzwerk von Differenzierungen, Rückbezügen, Revisionen und dialogisch verhandelten Geltungsprozessen. Git-basierte Systeme wie GitHub, GitLab oder Gitea schaffen die technischen Voraussetzungen, um diese Dynamiken transparent und dokumentierbar zu gestalten. Ein Fork stellt epistemolisch eine Unterscheidung dar – eine bewusste Abweichung von einem bestehenden Erkenntnispfad ($\bigcirc \longrightarrow \bigcirc'$). Die Motivation kann divergierend, explorativ oder widersprechend sein. Der Fork ist eine epistemische Markierung, in der ein alternativer Denkraum entsteht. In der Logik epistemolischer Versionierung ist er keine Abspaltung, sondern eine Möglichkeit zur Geltungsdifferenzierung. Ein Merge dagegen ist eine strukturierte Re-Eingabe zweier Denkpfade in eine geteilte Form ($\bigcirc(\bigcirc_1 + \bigcirc_2)$). Die epistemische Herausforderung liegt in der Integration verschiedener erkenntnistheoretischer Kontexte, Hypothesen oder Argumentationslinien. Der Merge dokumentiert Resultat dieser Zusammenführung und auch die Auseinandersetzung mit Geltung, Anschluss und Inkompatibilität. In einer epistemolischen Perspektive ergibt sich folgende Struktur: - **Forks** ermöglichen epistemische Multiplizierung und sichtbar divergente Erkenntnispfade - **Commits** markieren Entscheidungen im Fluss des Denkens ($\bigcirc_1, \bigcirc_2, \dots$) - **Branches** strukturieren alternative Konstellationen, ohne epistemische Exklusion - **Merges** erzeugen neue Geltung durch integrative Formoperationen - **Issues und Pull Requests** fungieren als Diskursräume für Re-entry und argumentative Aushandlung Diese Strukturen transformieren die Idee wissenschaftlicher Kommunikation, indem sie Submission durch Version, Peer Review durch offene Diskursangebote und fixe Autorenschaft durch dokumentierte Beteiligung erweitern. Daraus entsteht ein System, in dem Erkenntnisprozesse selbst als zentraler Gegenstand reflexiver Auseinandersetzung gestaltet werden – als methodisches Prinzip mit strukturierender Funktion (vgl. Fecher & Friesike, 2014; Klein et al., 2022). Open Science in dieser Form verwirklicht zentrale Momente des Epistemolismus: durch Sichtbarkeit epistemischer Formprozesse, durch strukturierte Rückverfolgbarkeit, Re-entry-Fähigkeit und kollaborative Anschlussfähigkeit. Die epistemische Qualität zeigt sich sowohl in der Gültigkeit des Inhalts als auch in der transparenten Genese wissenschaftlicher Aussagen. ### 2.7.5 Rückverfolgbare Curriculumgestaltung mit Reflexionsmetadaten Curricula gelten traditionell als stabile Steuerungsinstrumente von Bildungsprozessen. Aus epistemolischer Perspektive sind sie jedoch mehr als normative Ordnungen, d.h. Ergebnisse epistemischer Setzungen. Ihre Entwicklung, Revision und Begründung kann – wenn sichtbar gemacht – selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung werden. Rückverfolgbare Curriculumgestaltung bedeutet daher, die epistemische Genese eines Curriculums dokumentiert, versioniert und reflektiert zu gestalten. Ein epistemolisch fundiertes Curriculum zeigt auch *was* gelehrt werden soll, *wie* diese Entscheidung entstanden ist, *weshalb* bestimmte Inhalte Eingang fanden und *wann* welche Revision vorgenommen wurde. Damit wird das Curriculum selbst zu einem **epistemischen Artefakt** im Sinne Rheinbergers (1997) einerseits als statisches Steuerungsdokument, andererseits als Medium strukturierter Unterscheidungen, Setzungen und reflexiver Revisionen. Die Umsetzung erfolgt entlang folgender Prinzipien: - **Markierung**: Jede curriculare Entscheidung wird als bewusste Setzung epistemischer Geltung dokumentiert ($\bigcirc$). - **Versionierung**: Änderungen, Ersetzungen oder Umstellungen werden in einer commit-basierten Logik nachverfolgbar festgehalten ($\bigcirc_1 \rightarrow \bigcirc_2$). - **Reflexionsmetadaten**: Jede Veränderung wird mit Kommentaren, Geltungsannahmen, didaktischen Begründungen oder Stakeholder-Rückmeldungen angereichert (z. B. als YAML-Felder). - **Re-entry**: Frühere Curriculumentwürfe können wiederaufgerufen, aktualisiert und aus neuer Perspektive bewertet werden ($\bigcirc(\bigcirc)$). - **Cross**: Konflikte, Paradigmenwechsel oder Strukturumbrüche werden nicht verwischt, sondern als Erkenntnismomente sichtbar gemacht ($\bigcirc \longrightarrow \bigcirc'$). Auf diese Weise entsteht eine epistemolisch lesbare Curriculumentwicklung, die erkenntnistheoretische Verantwortung sichtbar hält. Was als Bildung gilt, wird entweder bloß entschieden, wohl kaum dokumentiert, begründet und zur Diskussion gestellt. Curriculumgestaltung wird damit zur wissenschaftlich anschlussfähigen Praxisform. Zudem eröffnet eine solche Struktur neue didaktische Perspektiven. Lernende und Lehrende erhalten Einblick in die epistemische Herkunft des Stoffes, die Argumente hinter Gewichtungen, die Entwicklungslinien hinter Kompetenzrastern. Bildung erscheint hier mehr als vorgegebene Ordnung, weiterführnd als dokumentierte Bewegung in einem Denkraum (vgl. Koller, 2012; Ziebarth, 2019). ### 2.7.6 Sichtbar gewordene Kriterienverletzung im eigenen Textprozess Ein besonders sprechendes Beispiel epistemolischer Praxis entsteht dort, wo die Formstruktur der Erkenntnisproduktion selbst sichtbar wird. Kaum geplant und gleichzeitig als Resultat eines methodologisch reflektierten Bruchs. Der hier vorliegende Text wurde zunächst in einem konsolidierten Zustand veröffentlicht, ohne dass die einzelnen Denkbewegungen, Revisionen oder commit-basierten Zwischenschritte dokumentiert waren. Damit wurde das epistemolisch formulierte Kriterium der versionierten Sichtbarkeit verletzt. ([Commit 078c162ae8](https://git.jochen-hanisch.de/research/methodologie/commit/078c162ae8d595680f9de91c4adc02d290b30fde)) Erst in einem späteren Bearbeitungsschritt – konkret in einem Commit-Kommentar zur Einfügung des Epilogs – wurde durch eine unübersehbare Formulierung sichtbar, dass ein KI-gestütztes Assistenzsystem beteiligt war. Die Metakommentierung („Hier ist der Epilog nochmals sprachlich überarbeitet – nun vollständig ohne Doppelpunkte, wie gewünscht“) trug ungewollt die Signatur eines dialogischen Prozesses, der zuvor nicht explizit kenntlich gemacht worden war. Die Infrastruktur des Git-Repositories markierte diesen Zusammenhang transparent und unwiderruflich. ([Commit 897660be1f](https://git.jochen-hanisch.de/research/methodologie/commit/897660be1f5fb92d569c9cd40805fc20d637b7da)) Was hier sichtbar wurde, entfaltete sich als epistemische Spur. Die Abweichung vom Prinzip erscheint als Ausdruck eines Spannungsfeldes, das epistemolische Praxis bewusst integriert: das Bedürfnis nach Form erhält Vorrang gegenüber Sichtbarkeit, das Streben nach einem Ergebnis findet seinen Platz im Verhältnis zur Offenheit. Die bewusste Entscheidung zur Veröffentlichung dieser Struktur markiert einen entscheidenden Moment epistemischer Integrität (Döring, 2023). Die Theorie vollzieht sich im Durchsetzen und Beobachten^[Döring (2023) fordert in ihrer Darstellung der empirischen Sozialforschung eine reflektierte Transparenz epistemischer Voraussetzungen. Methodische Entscheidungen seien sichtbar zu machen und im Sinne theoretischer Offenheit zu reflektieren. Diese Forderung lässt sich auf den Einsatz KI-gestützter Systeme übertragen. Auch digitale Assistenzmittel beeinflussen die Struktur des Erkenntnisprozesses substanziell und sollten daher als epistemisch relevante Bedingungen dokumentiert werden (vgl. Döring, 2023, S. 25–41)]. In dieser Bewegung konkretisiert sich das Prinzip des Re-entry. Der epistemolische Text nimmt sich selbst zum Gegenstand. Der Umgang mit dem eigenen Anspruch erscheint dokumentiert. Die epistemische Geltung entfaltet sich aus der strukturierten Rückbindung an ihre Entstehungsbedingungen. Sichtbar bleibt die Differenz zwischen Anspruch und Vollzug – als produktive Struktur epistemischer Reflexivität. ## 2.8 Epistemische Infrastrukturen aus Sprach- und Kulturräumen Wissenschaftliche Praxis, wie hier eingeführt, entstand aus dem Bedürfnis heraus, ein Spannungsfeld überwinden zu wollen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisformen in unterschiedlichen Sprach- und Publikationskulturen systematisch unterscheiden – sowohl im Hinblick auf die bevorzugten Medien (Paper, Monografie, Beitrag), als auch hinsichtlich ihrer epistemologischen Grundhaltungen. Eine vergleichende Betrachtung wissenschaftlicher Veröffentlichungspraktiken zwischen dem angloamerikanischen und dem deutschsprachigen Raum zeigt Abbildung 1: Vergleich von Sprach- und Publikationskulturen^[Die interaktive Visualisierung liegt unter der angegebenen URL als HTML-Datei vor und zeigt eine vergleichende Auswertung nach Ländern und Publikationsformaten: https://public.jochen-hanisch.de/plot/promotion/visualize_language_entrytypes_02-01.html]: Während im angloamerikanischen Raum das Journal Paper als bevorzugtes Format vorherrscht – mit Fokus auf Funktionalität, Standardisierung und Operationalisierung –, dominieren im deutschsprachigen Raum Monografien und Buchbeiträge, die eher hermeneutisch, historisierend und reflexiv orientiert sind. Diese Formunterschiede sind äußerlich und damit zudem Ausdruck tiefer liegender kultureller Prägungen epistemischer Ordnungen. Die deutschsprachige Wissenschaftskultur ist durch das humboldtsche Ideal des gebildeten Subjekts, durch narrative Argumentationsformen, kontextuelle Einbettung und das Denken in historischen Entwicklungslinien geprägt. Der angloamerikanische Wissenschaftsdiskurs favorisiert ein Erkenntnismodell, das auf Reproduzierbarkeit, Stringenz und technischer Prüfbarkeit basiert – epistemisch effizient, dabei aber häufig blind gegenüber seinen eigenen Voraussetzungen. Die Versuche, diese beiden Kulturen miteinander zu verbinden, bspw. im Zuge des Bologna-Prozesses, zeigen, wie eine einfache Übertragung struktureller Formate auf kulturell anders strukturierte Bildungssysteme mit Reibung möglich ist. Ähnliche Schwierigkeiten treten in der Kompetenzbegriffsdebatte auf, deren begriffliche Pluralität weniger Ausdruck theoretischer Vielfalt als vielmehr Anzeichen epistemischer Inkompatibilität ist (vgl. Schwierigkeiten beim Kompetenzdiskurs, in dem vielfältige Anstrengungen unternommen werden, um unterschiedlichste Interpretationsräume miteinander zu verknüpfen). Aus dieser Analyse ergibt sich eine logische Konsequenz: Zur Überwindung des Spannungsverhältnisses müssen epistemische Infrastrukturen geschaffen werden, die in der Lage sind, kulturelle Differenz zu benennen und damit sichtbar, dialogisch und strukturbildend zu gestalten. Der Epistemolismus ist der Versuch, eine solche Infrastruktur zu entwerfen – sowohl im Sinne eines Dazwischen als auch als eine transversale Form, die Elemente beider Kulturen aufnimmt, transformiert und in ein reflexives, versionierbares, situiertes Erkenntnissystem überführt. Git, Markdown, Obsidian und vergleichbare Werkzeuge sind in diesem Zusammenhang mehr als bloße Mittel: Sie sind konstitutive Träger epistemologischer Neustrukturierung. Damit ermöglichen diese Werkzeuge eine Wissenschaftspraxis, in der Revision, Rückverfolgbarkeit, Sprachsensibilität und Kontextualisierung beobachtbar und methodologisch verpflichtend werden. Der Epistemolismus ist somit keine Verweigerung klassischer Formen, sondern deren explizite Ergänzung und Erweiterung unter veränderten epistemischen Bedingungen. Daraus entfaltet sich eine offene Konfiguration wissenschaftlicher Geltung, in der Erkenntnis als dokumentierbare Bewegung, als reflexiv strukturierte Form und als öffentlich teilbares Denkgeschehen sichtbar wird. Die kulturelle Irritation bildet dabei den Ausgangspunkt für eine produktive Matrix epistemischer Verantwortung, die Differenz aufzeigt und in Form bringt. Auf dieser Grundlage lassen sich konkrete Anforderungen an wissenschaftliche Praxis formulieren. Sichtbarkeit, Rückverfolgbarkeit und Reflexion epistemischer Prozesse gelten dabei als grundlegende Bedingungen. Der Epistemolismus bietet in diesem Sinn einen Zugang, der das beschriebene Spannungsverhältnis methodisch aufnimmt und die jeweiligen Stärken unterschiedlicher Wissenschaftskulturen integrativ weiterentwickelt. # 3 Forderungen Die zuvor beschriebene Analyse zeigt, dass die produktive Irritation zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen durch die bewusste Gestaltung epistemischer Infrastrukturen konstruktiv gerahmt werden kann. Der Epistemolismus entfaltet sich als wissenschaftlich fundierte Praxis, in der Erkenntnisprozesse strukturell sichtbar, versionierbar und reflexiv gestaltet werden. Daraus ergeben sich konkrete Anforderungen an die Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens. Diese beziehen sich auf methodische Verfahren, technische Werkzeuge sowie auf die Form, in der Geltung erzeugt, verantwortet und weitergetragen wird. Die Anforderungen adressieren sowohl die individuelle Forschungspraxis als auch institutionelle Strukturen und kulturelle Rahmungen von Wissenschaft. Erkenntnis entsteht in epistemolischer Perspektive vor allem durch dokumentierte Bewegung. Stabilität und Abschluss wirken dabei ergänzend und tragen zur Vielgestaltigkeit epistemischer Geltung bei. Aus dieser Haltung ergeben sich strukturelle Forderungen, die das Verhältnis von Forschung, Lehre und Öffentlichkeit differenziert und zukunftsfähig gestalten. ## 3.1 Für wissenschaftlich arbeitende Individuen Die epistemolische Praxis eröffnet wissenschaftlich arbeitenden Individuen einen Gestaltungsraum, in dem Denken sichtbar, reflexiv und rekonstruierbar wird. Wer in diesem Sinne wissenschaftlich arbeitet, versteht Erkenntnis als dokumentierte Bewegung innerhalb eines denkenden Systems. Diese Bewegung manifestiert sich dort, wo Entscheidungen als markierte Denkakte erscheinen, Revisionen sichtbar bleiben und Übergänge nachvollziehbar dokumentiert sind. In epistemolischer Perspektive rückt die Form wissenschaftlicher Arbeit selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Neben dem Ergebnis gewinnen die Entstehungsbedingungen des Denkens, seine Formulierungsprozesse, Veränderungspunkte und Resonanzkontexte an Bedeutung. Die epistemische Verantwortung entfaltet sich im methodisch strukturierten Rückbezug auf eigene Erkenntnisschritte. Reflexion wirkt dabei als konstitutives Moment wissenschaftlicher Geltung. Auf dieser Grundlage entsteht eine Praxis, in der versionierte Notizen, commit-basierte Forschungstagebücher, kommentierte Zwischenstände und rekonstruierbare Argumentationslinien als epistemische Kernpraktiken in Erscheinung treten. Werkzeuge wie Git, Markdown, strukturierte E-Portfolios oder semantisch angereicherte Arbeitsumgebungen bilden die medialen Voraussetzungen für diese Sichtbarkeit. Wissenschaftlich arbeitende Individuen bewegen sich in einer Formkultur, die Geltung aus dem strukturierten Verlauf schöpft. Sie agieren als Beobachtende, Dokumentierende und Strukturierende eines Erkenntnisraums, dessen Dynamik sichtbar bleibt. Der epistemolische Zugang stärkt eine Haltung, in der Selbstbeobachtung, formale Kohärenz und digitale Medialität als Ausdruck wissenschaftlicher Redlichkeit wirken. ## 3.2 Für wissenschaftliche Institutionen und Bildungseinrichtungen Für wissenschaftliche Institutionen und Bildungseinrichtungen ergibt sich aus dem Konzept des Epistemolismus ein erweiterter Bezugsrahmen: Wissenschaftliches Arbeiten richtet sich an der Sichtbarkeit und strukturellen Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisprozesse aus, in denen Ergebnisse Gestalt gewinnen. Forschung und Lehre erscheinen in dieser Perspektive als eng verschränkte Vollzugsformen epistemischer Praxis, deren Qualität sich durch die dokumentierte Gestaltung formaler Übergänge ausdrückt. Die institutionelle Aufgabe liegt darin, mediale, rechtliche und organisatorische Voraussetzungen so zu gestalten, dass versioniertes, reflexives und rekursiv anschlussfähiges Denken zur selbstverständlichen Praxis wissenschaftlicher Arbeit werden kann. Eine geeignete Infrastruktur fördert Markierung, Kontextualisierung und Wiederaufnahme von Denkakten. Curriculare Prozesse, Prüfungsordnungen und Forschungsformate entfalten dabei ihre epistemische Funktion als strukturierte Möglichkeitsräume erkenntnisbildender Bewegung. In diesem Sinne verändert sich auch das Verständnis wissenschaftlicher Leistung. Geltung entsteht im Zusammenspiel von Peer Review, formalen Endversionen und der dokumentierten Genese epistemischer Setzungen. Bildungseinrichtungen, die diesen Anspruch ernst nehmen, fördern keine Perfektion, sondern ermöglichen Sichtbarkeit im Entstehen. Sie kultivieren eine Wissenschaftspraxis, in der das Denken selbst beobachtbar bleibt, ohne auf narrative Kohärenz reduziert zu werden. Die Integration von Werkzeugen wie Git, Obsidian oder versionierbaren E-Portfolios markiert dabei keinen technischen Zusatz, sondern eine epistemische Verschiebung. Ein solcher institutioneller Rahmen fördert neue Formen wissenschaftlicher Sozialität und etabliert zugleich erweiterte Modi epistemischer Verantwortung. Reflexion, Revision, Kontextualisierung und Feedback treten als strukturprägende Elemente einer epistemolischen Kultur hervor. Forschung entfaltet sich in einer Organisation, die Sichtbarkeit methodisch integriert. Lehre gestaltet sich als Beteiligung an formstrukturierten Erkenntnisprozessen. Die Institution erscheint in diesem Verständnis als dynamischer Raum rekursiver Erkenntnisbildung und als Ort, an dem wissenschaftliche Prozesse nachvollziehbar entstehen sowie weiterentwickelt werden. ## 3.3 Für die Wissenschaftskultur im Allgemeinen Die epistemolische Perspektive richtet sich auf eine umfassende Erweiterung der Wissenschaftskultur. Im Fokus steht die Gestaltung des Verhältnisses von Erkenntnis und Sichtbarkeit, von Geltung und Genese, von Stabilität und Revision. Eine Wissenschaftskultur im Sinne epistemolischer Prinzipien anerkennt die dokumentierte Struktur des Erkenntnisprozesses als zentrales Kriterium wissenschaftlicher Qualität. Abgeschlossene Ergebnisse behalten ihren Wert, treten jedoch in ein Spannungsverhältnis mit der sichtbaren Genese ihrer Entstehung. Im Zentrum dieser Perspektive steht die Überzeugung, dass sich wissenschaftliche Qualität aus der Form ergibt, in der epistemische Entscheidungen nachvollziehbar werden. Geltung entfaltet sich in der strukturierten Rückverfolgbarkeit jener Denkprozesse, die Aussagen hervorbringen. Integrität zeigt sich als Kohärenz des Denkweges, sichtbar in der Kommentierung, Modifikation und dokumentierten Rückbindung gedanklicher Setzungen. In dieser Form entsteht eine Wissenschaftskultur, die sich durch Vielfalt der Zugänge, Diversität der Denkweisen und methodisch verankerte Revidierbarkeit auszeichnet. Forks, versionierte Alternativen, annotierte Zwischenstände und öffentlich zugängliche Argumentationslinien bilden die strukturelle Basis einer Kultur, die Differenz keinesfalls als Defizit, sondern als Potenzial begreift. Die digitale Epistemosphäre unterstützt diesen Kulturwandel, indem sie sowohl Ergebnisse als auch deren Entstehung sichtbar macht. Wissenschaft wird in diesem Raum dialogisch und rekursiv kommunizierbar. Produktion und Rezeption epistemischer Inhalte stehen in einem geteilten Bezug auf nachvollziehbare Formprozesse. Diese Form von Wissenschaftskultur gewinnt ihre Kontur aus der konsequenten Verankerung epistemischer Sichtbarkeit in technischen, formalen und diskursiven Strukturen. Erkenntnis erscheint als rekonstruktive Bewegung, als strukturierte Spur innerhalb eines offenen Denkraums. Der Epistemolismus beschreibt diese Bewegung als konstitutives Element einer wissenschaftlichen Praxis, die sich ihrer Form bewusst begegnet. ## 3.4 Vergleichende Synopse: Epistemolismus und tradierte Wissenschaftskulturen Die Folgerungen, die aus dem Begriff des Epistemolismus hervorgehen, markieren keine Abwendung von bestehender Wissenschaftspraxis, sondern eine konsequente Erweiterung ihrer epistemologischen und methodischen Reichweite. Die klassische Wissenschaftskultur basiert auf Geltung durch Stabilität, Objektivität, Peer Review und formal abgesicherte Endfassungen. Diese Verfahren sind seit Jahrhunderte bewährt und bieten eine Grundlage für die institutionelle Anerkennung, Bewertung und Reproduktion wissenschaftlicher Aussagen. Der Epistemolismus erweitert bestehende Wissenschaftsformen durch eine veränderte Perspektive. Im Zentrum steht die nachvollziehbare Struktur der Entstehung wissenschaftlicher Aussagen. Während klassische Wissenschaft auf Resultate und Repräsentation fokussiert, betont der Epistemolismus die Bedeutung von Versionen und Re-entry als Ausdruck epistemischer Übergänge. Stabilität fungiert weiterhin als Qualitätsmerkmal, ergänzt durch die Sichtbarkeit der Entstehungsdynamik. Die Geltung wissenschaftlicher Aussagen wird aus dem Zusammenspiel von Endprodukt und dokumentierter Genese gestaltet. Damit entsteht eine strukturelle Ergänzung, in der die Bewegungsform eines Textes ebenso bedeutungstragend wird wie seine finale Gestalt. In diesem Sinne können tradierte und epistemolische Wissenschaftskulturen als zwei ineinander greifende Modi beschrieben werden. Die klassische Form fokussiert die geschlossene Darstellung, der Epistemolismus öffnet den Zugang zur Entstehung. Die eine erzeugt Orientierung durch Autorität und Fixierung, die andere durch Offenheit und Rückverfolgbarkeit. In der Gegenüberstellung wird sichtbar, dass beide Ansätze auf unterschiedliche Bedingungen wissenschaftlicher Geltung antworten; die eine auf formale Validierung, die andere auf rekursive Transparenz. Die wissenschaftliche Praxis der Zukunft entfaltet in der bewussten Kombination unterschiedliche Modelle. Der Epistemolismus erweitert den Möglichkeitsraum wissenschaftlichen Denkens um eine Dimension struktureller Sichtbarkeit, in der Reflexion, Versionierung und partizipative Anschlussfähigkeit als methodisch konstitutive Elemente selbstverständlich an Bedeutung gewinnen. Wissenschaft gewinnt dadurch an epistemologischer Tiefe und formaler Differenzierungsfähigkeit. Diese Verschiebung bedeutet keine Ablösung, sondern eine strukturelle Ergänzung (vgl. Kapitel 2.8 zur kulturvergleichenden Herleitung). # 4 Implikationen Epistemolismus entfaltet eine wissenschaftliche Praxis, die Sichtbarkeit, Versionierung und reflexive Rekonstruktion epistemischer Prozesse in den Mittelpunkt stellt. Daraus könne weitreichende Implikationen abgeleitet werden, die methodische Empfehlungen überschreiten. Die nachfolgenden Überlegungen markieren grundlegende Verschiebungen in der Erzeugung wissenschaftlicher Geltung, in der Organisation von Lernprozessen und in der epistemischen Verfasstheit des Subjekts. • Erkenntnis gewinnt im Modus versionierter Formprozesse an Kontur. Wissenschaftliche Qualität entsteht durch strukturelle Rückverfolgbarkeit epistemischer Entscheidungen. Die dokumentierte Genese erhält hohen Stellenwert, während die Endfassung als Ausdruck einer Entwicklung erscheint. Transparenz von Denkbewegungen bildet ein zentrales Kriterium wissenschaftlicher Redlichkeit. • Sichtbarmachung von Denkprozessen verortet das Subjekt innerhalb wissenschaftlicher Verfahren. Autor:innenschaft tritt in der Spur kognitiver Entscheidungen hervor. Subjektivität entsteht durch formstrukturierte Beobachtbarkeit. Reflexivität übernimmt eine tragende Funktion innerhalb wissenschaftlicher Praxis. • Die dokumentierte Bewegung einer Aussage eröffnet ein verändertes Verhältnis von Produktion und Rezeption epistemischer Inhalte. Wissenschaftliche Kommunikation wirrd demnach als Einladung zur Teilhabe an einem offenen Formprozess gestaltet. Autorenschaft, Kritik und Mitgestaltung greifen in dynamischer Weise ineinander. • Lehren und Lernen erscheinen als Beteiligung an sichtbar gewordenen Erkenntnisprozessen. Pädagogische Räume bieten Gelegenheit zur strukturierten Beobachtung epistemischer Formbildung. Bildung gewinnt Gestalt im Modus epistemischer Gestaltung. Lernende agieren als aktive Teilnehmende innerhalb einer reflexiven Geltungskultur. • Wissenschaftliche Institutionen, die epistemolische Praktiken fördern, entwickeln Infrastrukturen rekursiver Sichtbarkeit. Governance ist an struktureller Anschlussfähigkeit orientiert, an kohärenten Versionen und dichter Verknüpfung reflexiver Elemente. Evaluation gewinnt Qualität durch Gestaltbarkeit epistemischer Prozesse. In der Summe entsteht ein erweitertes Verständnis epistemischer Ordnungen. Beobachtbarkeit der Genese wissenschaftlicher Aussagen rückt ins Zentrum. Diese Perspektive ergänzt klassische Wissenschaftskulturen in formlogisch konsistenter Weise. Erkenntnis erhält Ausdruck in einer beweglichen, strukturierten Form – wirksam durch Offenheit, gestaltungsfähig im Modus ihrer Entstehung. # 5 Kritik Jede theoretische Setzung mit Geltungsanspruch zeigt im Raum ihre mögliche Infragestellung. Der Epistemolismus erhebt keinen Anspruch auf Unangreifbarkeit, sondern integriert Kritik als konstitutives Moment. Als reflexiv fundierte Praxis entfaltet er Geltung sowohl in Form einer Position als auch als Verfahren zur Beobachtung epistemischer Voraussetzungen. Aus dieser Haltung erwächst ein methodischer Rahmen für produktive Einwände. Die folgenden Perspektiven formulieren zentrale Herausforderungen und eröffnen den Raum für einen gemeinsamen Geltungsdiskurs. ## 5.1 Herleitung möglicher Kritik Die Kritik am Epistemolismus speist Argumente aus unterschiedlichen Richtungen. Diese wird in erkenntnistheoretischen, pragmatischen, methodologischen und institutionellen Spannungsfeldern verortnet. Im Zentrum vieler Einwände stehen Gegensätze zwischen epistemischer Offenheit und institutioneller Verbindlichkeit, zwischen Sichtbarkeit von Prozessen und Orientierung an Ergebnissen, zwischen reflektierter Subjektivität und kommunikativer Handhabbarkeit. 1. Ein erster Einwand thematisiert die Gefahr einer Überformalisierung. Die Sichtbarmachung jeder Formulierung, Revision und Entscheidung könnte zu einem Verlust ökonomischer Klarheit führen. Epistemolische Praxis droht in dieser Perspektive in versionierten Protokollen zu verharren oder in ausufernden Kommentarschleifen aufzugehen – mit dem Risiko, Anschlussfähigkeit einzubüßen. 2. Ein zweiter Kritikpunkt richtet den Blick auf mögliche Inkommensurabilität mit etablierten Wissenschaftssystemen. Der Anspruch auf Sichtbarkeit, Re-entry und Reflexion steht im Spannungsverhältnis zu gewachsenen Anforderungen: Eindeutigkeit, klar zuweisbare Autorenschaft, Zitationsfähigkeit und formalisierter Peer Review. Die Frage entsteht, ob epistemolische Praxis innerhalb disziplinärer Publikationsformate wirksam agieren kann – oder ob ihr Raum primär in peripheren Zonen institutioneller Öffentlichkeit liegt. 3. Ein dritter Einwand betrifft die Verschiebung epistemischer Verantwortung. Technologische Infrastrukturen – etwa Git, Markdown, automatisierte Versionierung oder algorithmische Analysewerkzeuge – verlagern Verantwortung von der Person auf die Struktur. In dieser Lesart entsteht Sichtbarkeit nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern durch technische Abläufe. Reflexion würde damit in eine Funktion technischer Systeme überführt – mit unklarer epistemologischer Verortung. 4. Ein vierter Einwand käme aus der Richtung der Bildungssoziologie und Machtkritik. Die Sichtbarmachung epistemischer Prozesse könne – entgegen ihrer emanzipatorischen Intention – auch Kontrollformen befördern. Wenn Denken in Logdateien gespeichert, jede Revision nachvollzogen und jede Unsicherheit rekonstruiert wird, kann dies zur Grundlage einer neuen Form epistemischer Bewertung oder Normalisierung werden. Sichtbarkeit erscheint als strukturierte Form der Beobachtung, die sowohl Transparenz ermöglichen als auch epistemische Prozesse rahmen und beeinflussen kann. ## 5.2 Mögliche Entgegnungen Der Epistemolismus versteht Kritik als produktive Re-entry-Struktur und zugleich als Impuls zur Weiterentwicklung. Der Vorwurf der Überformalisierung verliert an Schärfe, wenn epistemolische Praxis über Mittel zur Komplexitätsreduktion verfügt. Versionierung erfüllt keinen Selbstzweck, sondern wirkt als rekursive Struktur mit situativer Fokussierbarkeit. Technisch erzeugte Sichtbarkeit erhält epistemische Relevanz durch bewusste Kontextualisierung und methodische Einbettung. Eine kluge Kuration epistemischer Prozesse gehört zum Kern epistemolischer Gestaltung. Auch die Kritik der Inkommensurabilität greift zu kurz. Der Epistemolismus fungiert als reflexive Tiefenstruktur wissenschaftlicher Praxis. Bestehende Formate wie Peer Review, Autorenschaft und Zitation bleiben erhalten und gewinnen durch rekursive Nachvollziehbarkeit an Tiefe. Institutionelle Anschlussfähigkeit wird so epistemologisch erweitert. Im Blick auf Subjektentlastung zeigt sich: Der Epistemolismus basiert auf technischer Transparenz und epistemischer Entscheidung. Versionierung erscheint als strukturierender Speicher epistemischer Bewegung. Git dient weniger als Ersatz denn als Medium reflexiver Setzungen. Die Verantwortung für Sichtbarkeit bleibt beim Subjekt, das eigene Unterscheidungen organisiert und dokumentiert. Die machtkritische Perspektive verweist auf ein reales Risiko epistemischer Instrumentalisierung. Sichtbarkeit lässt sich kontrollieren, normieren und bewerten. Im epistemolischen Verständnis gilt Sichtbarkeit als Wert und als Formstruktur – beobachtbar, kommentierbar, kontextualisierbar. Der Epistemolismus enthält ein eigenes Korrektiv, indem er Denkakte, Bedingungen und Ordnungen von Sichtbarkeit erkennbar macht. ## 5.3 Reflexive Konsequenz Die Kritik am Epistemolismus ist kein Störfaktor, sondern konstitutiver Bestandteil. Sie hält Sichtbarkeit lebendig, entfaltet Reflexivität in dialogischer Struktur und macht Versionierung zur produktiven Form im Umgang mit Komplexität. Der epistemolische Zugang verlangt nach Enthusiasmus zum einen und nach Differenzierung zusätzlich. Und genau darin liegt seine Stärke. Er strukturiert die Möglichkeit, Kritik methodisch sichtbar zu machen. # 6 Zusammenfassung Der Epistemolismus bezeichnet eine wissenschaftliche Praxisform, in der Erkenntnis als dynamischer, strukturierter und versionierbarer Prozess mit reflexiver Rekonstruktionsmöglichkeit erscheint; getragen von der Idee, dass Geltung aus Bewegung und Dokumentation erwächst.Er ist weder Theorie noch Methode im engeren Sinn, sondern ein epistemologisch fundierter Gestaltungsmodus, der die Sichtbarkeit epistemischer Prozesse zum konstitutiven Bestandteil wissenschaftlicher Geltungsproduktion erhebt. Ausgehend von der Setzung einer begrifflichen Neuschöpfung wird der Epistemolismus in diesem Text sowohl formal-hermeneutisch als auch erkenntnistheoretisch, formlogisch und bildungstheoretisch hergeleitet. Die theoretischen Bezüge reichen von der klassischen Epistemologie über Foucaults Begriff der Episteme bis zur Formlogik George Spencer-Browns. Im Zentrum steht die Annahme, dass Erkenntnis ihre Geltung durch die dokumentierte Nachvollziehbarkeit ihrer Entstehung gewinnt – unterstützt durch Ergebnisorientierung und methodische Strenge. Digitale Werkzeuge wie Git, Markdown, Reflexionslogbücher oder E-Portfolios tragen in diesem Zusammenhang wesentlich zur Sichtbarkeit epistemischer Prozesse bei. Sie fungieren als zentrale Medien wissenschaftlicher Praxis und machen die Entstehungsdynamik von Erkenntnis methodisch zugänglich. Die dargestellten Beispiele – von git-basierten Forschungsnotizen über Open-Science-Strukturen bis hin zur rückverfolgbaren Curriculumgestaltung – unterstreichen die praktische Anschlussfähigkeit des Konzepts. Die aus dem Epistemolismus abgeleiteten Forderungen adressieren wissenschaftlich arbeitende Individuen, institutionelle Infrastrukturen und die Wissenschaftskultur im Allgemeinen. Sie laden zu einer erweiterten Aufmerksamkeit für Form, Herkunft und Geltung epistemischer Setzungen ein. Die Implikationen des Epistemolismus eröffnen neue Perspektiven jenseits methodischer Innovationen und betreffen das Verhältnis von Subjekt und Erkenntnis ebenso wie die institutionellen Bedingungen von Wissenschaft und Lehre. Kritische Rückmeldungen – etwa mit Blick auf mögliche Überformalisierung, begrenzte Anschlussfähigkeit oder implizite Machtwirkungen – sind integrale Bestandteile des Konzepts. Sie werden als produktive Re-entry-Strukturen begriffen, durch die epistemolische Praxis ihre eigene Form beobachtbar und überprüfbar hält. In dieser Haltung erscheint der Epistemolismus als reflexive Erweiterung bestehender Wissenschaftsverständnisse. Erkenntnis tritt dabei als relationale Differenz hervor – beobachtbar, rekonstruierbar und methodisch anschlussfähig. Gerade diese Differenz kennzeichnet Wissenschaft als strukturierten Prozess und gestaltbare Form. # Epilog Im Verlauf dieser Begriffsbestimmung wurde ein zentrales epistemisches Kriterium in besonderer Weise gestaltet: Die schrittweise Sichtbarmachung des Denkens durch versionierte Veröffentlichung wurde in diesem Fall zugunsten einer konsolidierten Erstfassung zurückgestellt. Anstelle einer dokumentierten Genese einzelner Textabschnitte liegt eine zusammengeführte Version vor. Diese bewusste Entscheidung verweist auf die Spannung wissenschaftlichen Denkens, das bestrebt ist, seine eigenen Voraussetzungen sichtbar werden zu lassen. Dort, wo epistemische Offenheit zur Struktur wird ([[Radikaler Epistemolismus]]), entfalten kulturelle, technische und psychologische Impulse ihre produktive Wirkung. Das Bedürfnis nach Ordnung ergänzt die Suche nach Sichtbarkeit, der Wunsch nach Abschluss steht im Dialog mit der Einladung zur Teilhabe, das Streben nach Autorisierung verbindet Bereitschaft und Revision. Die bewusste Wahl einer konsolidierten Fassung gehört zur epistemolischen Bewegung. Sie verdeutlicht, dass Sichtbarkeit eine eigenständige Formstruktur darstellt, die beobachtet und reflektiert werden kann. Der Epistemolismus folgt einer Dynamik, in der Brüche, Rücknahmen und Übergänge integrale Bestandteile sind. Die vollständige Erstveröffentlichung verweist auf die Offenheit für spätere Wiederaufnahme und Weiterentwicklung. Sichtbarkeit entfaltet ihre relationale Qualität in der Spannung zwischen Anspruch und Vollzug. Aus dieser Konstellation entsteht ein weiter Möglichkeitsraum, der erschlossen und reflektierend gestaltet werden kann. Der vorliegende Text stellt keinen abgeschlossenen Zustand dar. Er markiert einen Moment innerhalb einer fortlaufenden Bewegung. Die Veröffentlichung markiert keinen Abschluss, sondern einen Übergang innerhalb eines rekursiven Erkenntnisprozesses. Sichtbar wird eine Form – offen, beobachtbar und anschlussfähig. In dieser Offenheit liegt ihr wissenschaftlicher Gehalt. # Quelle(n) - Bauer, Wolfgang, Dengerink, Jurriën, & Struyven, Katrien. (2021). _Reflexive Teacher Education_. Springer. - Döring, N. (2023). _Wissenschaftstheoretische Grundlagen der empirischen Sozialforschung_. In N. Döring & J. Bortz (Hrsg.), _Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften_ (6. Aufl., S. 21–41). Springer. - Fecher, Benedikt, & Friesike, Sascha. (2014). Open Science: One Term, Five Schools of Thought. In Sascha Bartling & Sascha Friesike (Eds.), _Opening Science_ (pp. 17–47). Springer. - Foucault, Michel. (2001). _Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften_ (10. Aufl.). Suhrkamp. (Originalarbeit 1973) - Klein, Martin, Broadwell, Peter, Farb, Sharon E., & Grappone, Todd. (2022). Comparing published scientific journal articles to their pre-print versions. _PLOS ONE, 17_(3), e0265541. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0265541 - Kitchin, Rob. (2014). _The Data Revolution: Big Data, Open Data, Data Infrastructures and Their Consequences_. SAGE. - Knorr Cetina, Karin. (1981). _The Manufacture of Knowledge: An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science_. Pergamon. - Koller, Hans-Christoph. (2012). _Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse_. Kohlhammer. - Luhmann, Niklas. (1990). _Die Wissenschaft der Gesellschaft_. Suhrkamp. - Rheinberger, Hans-Jörg. (1997). _Toward a History of Epistemic Things: Synthesizing Proteins in the Test Tube_. Harvard University Press. - Spencer-Brown, George. (1969). _Laws of Form_. Allen & Unwin. - Steup, Matthias. (2018). Epistemology. In Edward N. Zalta (Ed.), _The Stanford Encyclopedia of Philosophy_ (Fall 2018 Edition). [https://plato.stanford.edu/archives/fall2018/entries/epistemology/](https://plato.stanford.edu/archives/fall2018/entries/epistemology/) - Tremel, Rebecca. (2016). Reflexionskompetenz als Teil von Lehrer*innenprofessionalität. In Susanne Reh & Christine Schmerer (Hrsg.), _Reflexionskompetenz_ (S. 63–80). Beltz Juventa. - Varela, Francisco J. (1990). _Ethical Know-How: Action, Wisdom, and Cognition_. Stanford University Press. - von Glasersfeld, Ernst. (1995). _Radical Constructivism: A Way of Knowing and Learning_. Routledge. - Ziebarth, Stefan. (2019). _Reflexivität und Subjektkonstitution in E-Portfolios_. Beltz Juventa. ----