**Emergenz: Definition und Herleitung auf systemtheoretischer Grundlage Ludwig von Bertalanffy**
created: 26.1.2025 | updated: 26.1.2025 | publishd: 26.1.2025 | [[Hinweise]]
# Einleitung
Emergenz ist ein zentraler Begriff in der Systemtheorie, der die Entstehung qualitativ neuer Eigenschaften beschreibt, die aus der Interaktion einzelner Komponenten eines Systems hervorgehen. Ziel dieses Textes ist es, eine fundierte Definition von Emergenz zu entwickeln, deren Herleitung aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven zu erläutern und deren Bedeutung für Forschung und Praxis zu beleuchten. Dabei dient dieser Beitrag als erster Versuch einer positiv-formulierten Definition von Emergenz, die als grundlegender Ausgangspunkt für interdisziplinäre Diskussionen und weitere wissenschaftliche Operationalisierungen dient. Diese Definition legt den Rahmen für zukünftige Forschungen, indem sie zentrale Aspekte wie Dynamik, Interaktion und systemische Rahmenbedingungen klar formuliert.
# 1 Definition
Emergenz bezeichnet die Operation, bei der in einem System durch die dynamische Interaktion seiner Komponenten qualitativ neue Eigenschaften, Strukturen oder Verhaltensweisen entstehen, die nicht vollständig auf die Einzelteile reduzierbar sind. Diese neuen Eigenschaften können durch mathematische Modelle beschrieben und analysiert werden, die die systemischen Bedingungen und Schwellenwerte identifizieren, unter denen Emergenz auftritt. Sie ist charakteristisch für hierarchisch organisierte, dynamische und offene Systeme und spiegelt die Fähigkeit dieser Systeme wider, komplexe Ganzheiten zu bilden.
1. Begriffseinordnung
- **„Emergenz bezeichnet die Operation“**:
- Einführung des Begriffs als **prozessuale Dynamik**, die auf das Entstehen neuer Eigenschaften hinweist.
- Verankerung in der Systemtheorie als aktive, kontinuierliche Entwicklung innerhalb eines Systems.
2. Kontext
- **„in einem System“**:
- **Systemischer Rahmen:** Emergenz tritt in abgegrenzten, aber interaktiven Einheiten auf, die nach systemtheoretischen Prinzipien organisiert sind.
- **Bezug zu Systemtheorie:** Stellt sicher, dass Emergenz nicht isoliert betrachtet wird, sondern immer im Kontext der Systemkomplexität.
3. Mechanismus
- **„durch die dynamische Interaktion seiner Komponenten“**:
- **Wechselwirkungen:** Grundvoraussetzung für emergente Phänomene; betont nicht-lineare, oft reziproke Interaktionen.
- **Nicht-Linearität:** Hebt hervor, dass Ergebnisse emergenter Prozesse nicht direkt proportional zu den Eingaben sind.
4. Ergebnis
- **„qualitativ neue Eigenschaften, Strukturen oder Verhaltensweisen“**:
- **Neuheit:** Emergenz beschreibt das Auftreten von Phänomenen, die vorher weder direkt beobachtbar noch ableitbar waren.
- **Höhere Systemebene:** Zeigt die evolutionäre oder strukturelle Entwicklung eines Systems an.
5. Nicht-Reduzierbarkeit
- **„die nicht vollständig auf die Einzelteile reduzierbar sind“**:
- **Abgrenzung:** Emergenz kann nicht durch das Verhalten oder die Eigenschaften der Einzelkomponenten allein erklärt werden.
- **Holistischer Ansatz:** Emergenz ist mehr als die Summe ihrer Teile und fordert ein Verständnis für Ganzheitlichkeit.
6. Methodologie
- **„diese neuen Eigenschaften können durch mathematische Modelle beschrieben und analysiert werden“**:
- **Modellierbarkeit:** Ermöglicht die wissenschaftliche Untersuchung emergenter Eigenschaften.
- **Werkzeuge der Wissenschaft:** Nutzung von Differentialgleichungen, Simulationen oder Netzwerktheorien zur Analyse.
7. Analyse
- **„die systemischen Bedingungen und Schwellenwerte identifizieren“**:
- **Kritische Punkte:** Markierung der Bedingungen, bei denen qualitative Veränderungen im System auftreten.
- **Schwellenwerte:** Quantifizierbare Parameter, die den Übergang von linear zu emergent kennzeichnen.
8. Bedingung
- **„unter denen Emergenz auftritt“**:
- **Kontextabhängigkeit:** Emergenz entsteht nicht zufällig, sondern unter spezifischen systemischen Voraussetzungen.
- **Konfiguration:** Abhängigkeit von den Eigenschaften des Systems und der Art der Wechselwirkungen.
9. Systemtyp
- **„charakteristisch für hierarchisch organisierte, dynamische und offene Systeme“**:
- **Hierarchie:** Notwendigkeit einer Organisation, bei der höhere Ebenen aus Interaktionen auf niedrigeren Ebenen entstehen.
- **Offenheit:** Systeme sind nicht geschlossen, sondern stehen im Austausch mit ihrer Umwelt.
10. Funktion
- **„spiegelt die Fähigkeit dieser Systeme wider, komplexe Ganzheiten zu bilden“**:
- **Funktionalität:** Emergenz zeigt die Fähigkeit eines Systems, neue Strukturen oder Prozesse zu entwickeln.
- **Komplexität:** Ziel ist die Erhöhung der Systemkomplexität und Anpassungsfähigkeit.
>Die Operationalisierung der Definition von Emergenz soll ausdrücklich im Kontext spezifischer Disziplinen erfolgen, die ihre jeweils eigenen Methoden, Modelle und Metriken entwickeln, um die dynamischen Interaktionen, systemischen Bedingungen und Schwellenwerte emergenter Phänomene zu analysieren. Beispiele hierfür sind mathematische Simulationen in der Physik, agentenbasierte Modelle in der Soziologie oder neuronale Netzwerke in der Kognitionswissenschaft.
# 2 Herleitung
Die Herleitung des Begriffs der Emergenz stützt sich maßgeblich auf die Gedanken von Ludwig von Bertalanffy, der durch seine systemtheoretischen Ansätze eine der präzisesten Annäherungen an eine Definition lieferte.
## 2.1 Philosophisch-historische Perspektive
In der Philosophie des 19. Jahrhunderts tauchte der Begriff der Emergenz erstmals auf, insbesondere in der Naturphilosophie und Metaphysik. John Stuart Mill und später George Henry Lewes beschrieben Emergenz als das Phänomen, bei dem "das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile". Diese Perspektive legte den Grundstein für die moderne Systemtheorie, indem sie die Unvorhersagbarkeit und qualitative Neuheit emergenter Phänomene betonte (Mill, 1843; Lewes, 1875).
## 2.2 Systemtheorie und Kybernetik
Ludwig von Bertalanffy, einer der Begründer der modernen Systemtheorie, legte mit seinem Werk *General System Theory* (1968) eine umfassende Grundlage für das Verständnis von Emergenz. Er betrachtete Systeme als hierarchisch organisiert, wobei jede Ebene emergente Eigenschaften aufweist, die aus den Wechselwirkungen der darunterliegenden Ebene entstehen.
Bertalanffy beschrieb Emergenz als Phänomen, das nicht durch eine einfache Summierung der Bestandteile erklärt werden kann, sondern durch die spezifische Organisation und Interaktion dieser Bestandteile entsteht. Er betonte die Bedeutung von Selbstorganisation, die Systemen ermöglicht, stabile Strukturen zu entwickeln, die gleichzeitig adaptiv und dynamisch sind. Diese Sichtweise ermöglichte, Phänomene wie biologische Evolution, ökologische Systeme und soziale Strukturen zu analysieren.
Ein zentraler Beitrag Bertalanffys war die mathematische Beschreibung solcher Prozesse. Er führte Konzepte wie Nichtlinearität und Rückkopplung ein, um die Dynamik emergenter Systeme formal zu modellieren. Diese Ansätze legten den Grundstein für viele spätere Entwicklungen in der Kybernetik und Komplexitätsforschung (von Bertalanffy, 1968).
Heinz von Foerster interpretierte Bertalanffys Ansatz weiter, indem er den Fokus auf rekursive Prozesse und Rückkopplungsschleifen legte. Von Foersters Perspektive hebt die Rolle des Beobachters als zentralen Faktor hervor, da dieser die emergenten Eigenschaften erkennt und kontextualisiert. Diese Sichtweise ist jedoch nicht ohne Einschränkungen. Die Fokussierung auf die Beobachterperspektive wird kritisiert, da sie die objektive Existenz emergenter Phänomene einschränkt und zu einer Engführung führen kann. Emergenz entsteht nicht erst durch die Wahrnehmung des Beobachters, sondern durch die dynamischen Interaktionen im System selbst. Diese Prozesse sind unabhängig vom Beobachter, der lediglich eine interpretative Rolle einnimmt.
## 2.3 Psychologie und Kognition
In der Psychologie wird Emergenz häufig mit Lern- und Denkprozessen verknüpft. Jean Piaget betrachtete kognitive Entwicklung als einen emergenten Prozess, bei dem durch Assimilation und Akkommodation neue Strukturen im Denken entstehen. Auch moderne Ansätze wie die Verbindung neuronaler Netzwerke in der Kognitionswissenschaft greifen auf das Konzept der Emergenz zurück (Piaget, 1950; Rumelhart & McClelland, 1986).
## 2.4 Mathematische Formeln
Mathematische Modelle beschreiben die Bedingungen, unter denen Emergenz auftritt:
- **Nichtlineare Dynamik:**
$ E(t+1) = f(E(t), x) \tag{1} $
Hierbei ist $E$ die emergente Eigenschaft und $x$ ein Eingangsparameter. Die Funktion $f$ beschreibt die Interaktion zwischen den Komponenten.
- **Schwellenwertmodell:**
$ P(E) = \sum_{i=1}^n w_i x_i \geq \text{Threshold} \tag{2} $
Dabei beschreibt $P(E)$ die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer emergenten Eigenschaft.
## 2.5 Schwellenwerte als Schlüsselkonzept
Während der Entwicklung der Definition von Emergenz wurde deutlich, dass Schwellenwerte eine zentrale Rolle in der Beschreibung und Operationalisierung emergenter Prozesse spielen. Schwellenwerte markieren die kritischen Punkte in einem System, bei denen qualitative Veränderungen auftreten und emergente Phänomene entstehen können. Diese Erkenntnis ergab sich aus der Analyse der Definition und der Diskussion darüber, wie dynamische Interaktionen in Systemen zu neuen Eigenschaften führen (*Scheffer et al., 2001*; *Kauffman, 1993*).
Die Schwellenwerte stammen aus der Dynamik der Systeme selbst und sind oft kontextspezifisch. Sie können durch empirische Beobachtungen, mathematische Modelle oder experimentelle Untersuchungen identifiziert werden. In verschiedenen Disziplinen zeigen sich Schwellenwerte in spezifischen Formen:
- **Physik:** Kritische Temperaturen oder Drücke, bei denen Phasenübergänge stattfinden, wie beim Übergang von flüssig zu gasförmig (Stanley, 1971).
- **Biologie:** Mindestdichte von Populationen, die notwendig ist, um kollektives Verhalten wie Schwarmintelligenz zu erzeugen (Couzin & Krause, 2003).
- **Soziologie:** Prozentsätze von Individuen, die ein Verhalten übernehmen müssen, um eine soziale Norm zu etablieren (Granovetter, 1978).
- **Informatik:** Aktivierungsschwellen in neuronalen Netzen, die die Reaktion eines Systems auslösen (McCulloch & Pitts, 1943).
Die Diskussion über Schwellenwerte zeigte, dass sie eine wichtige Verbindung zwischen der abstrakten Theorie von Emergenz und deren konkreten Anwendungen darstellen. Sie sind messbare, oft mathematisch beschreibbare Parameter, die als Grundlage für die wissenschaftliche Untersuchung von Emergenz dienen.
Indem Schwellenwerte als Schlüsselkonzept in der Definition von Emergenz verankert wurden, wurde die Definition nicht nur präziser, sondern auch anschlussfähig für disziplinübergreifende Forschung und Modellierung. Diese Erkenntnis unterstreicht die Bedeutung von Schwellenwerten als unverzichtbares Element in der Theorie und Praxis emergenter Systeme.
## 2.6 Beispiele
- **Physik:** Die Entstehung von Magnetismus kann als Beispiel für Emergenz verstanden werden, da sich durch die Ausrichtung von Elektronenspins innerhalb eines Materials eine makroskopisch beobachtbare magnetische Eigenschaft ergibt, die nicht aus den Eigenschaften einzelner Elektronen allein ableitbar ist. Dieses Phänomen verdeutlicht, wie kollektive Wechselwirkungen emergente Eigenschaften auf höherer Systemebene hervorbringen können (Kittel, 2004).
- **Biologie:** In Tiergruppen wie Fischschwärmen oder Vogelschwärmen entsteht Schwarmintelligenz durch die Interaktion individueller Mitglieder. Obwohl jedes Tier einfachen Verhaltensregeln folgt (z. B. Abstand halten oder Richtung anpassen), resultiert aus diesen lokalen Interaktionen ein koordiniertes, globales Verhalten, das komplexer ist als die Summe der Einzelaktionen (Couzin & Krause, 2003; Sumpter, 2006).
- **Soziologie:** Die Entstehung von sozialen Normen illustriert emergente Prozesse in sozialen Systemen. Individuen handeln zunächst unabhängig, aber durch wiederholte Interaktionen und die Anpassung an Gruppenerwartungen entstehen verbindliche Verhaltensmuster. Diese Normen entwickeln sich auf einer Ebene, die nicht direkt auf das Verhalten einzelner Personen zurückgeführt werden kann (Coleman, 1990; Bicchieri, 2006).
# 3 Folgerungen
Emergenz erklärt, wie komplexe Systeme durch Interaktion und Selbstorganisation neue Eigenschaften hervorbringen können. Dies hat weitreichende Implikationen für die Modellierung dynamischer Systeme in Wissenschaft und Technik. Beispielsweise bietet Emergenz eine Grundlage für das Verständnis von künstlicher Intelligenz und komplexen adaptiven Systemen.
# 4 Implikationen
Emergenz fordert klassische reduktionistische Ansätze heraus und erfordert interdisziplinäre Ansätze in Forschung und Praxis. In der Bildung könnte das Verständnis emergenter Prozesse zu neuen Lehrmethoden führen, die stärker auf Selbstorganisation und Reflexion setzen. In der Technik erlaubt die Berücksichtigung emergenter Eigenschaften die Entwicklung robuster, adaptiver Systeme.
# 5 Kritik
Ein Kritikpunkt ist, dass Emergenz oft phänomenologisch beschrieben wird und klare, operationalisierbare Definitionen fehlen. Zudem ist die mathematische Modellierung emergenter Prozesse oft schwierig und kontextabhängig. Ebenso erscheint Heinz von Foersters Beobachterperspektive als einengend, da sie die objektive Existenz emergenter Phänomene vernachlässigt und zu sehr auf die subjektive Wahrnehmung fokussiert. Eine stärkere Betonung der systeminternen Dynamiken kann diese Einschränkungen überwinden.
# 6 Zusammenfassung
Emergenz beschreibt die Entstehung neuer Eigenschaften durch die Interaktion von Komponenten in einem System. Sie ist charakteristisch für komplexe, dynamische und offene Systeme und hat weitreichende Implikationen für Wissenschaft und Praxis. Diese Definition ist bewusst allgemein gehalten, um eine breite Anschlussfähigkeit für disziplinübergreifende Forschung zu gewährleisten. Sie stellt einen ersten Aufschlag einer positiv-formulierten Definition dar, die als Grundlage für weitere disziplinäre Operationalisierungen dient. Zukünftige Arbeiten können darauf aufbauen, um die Bedingungen, Mechanismen und Anwendungsfelder emergenter Phänomene genauer zu erforschen.
# Quelle(n)
- Bicchieri, C. (2006). *The Grammar of Society: The Nature and Dynamics of Social Norms*. Cambridge University Press.
- Coleman, J. S. (1990). *Foundations of Social Theory*. Harvard University Press.
- Couzin, I. D., & Krause, J. (2003). Self-organization and collective behavior in vertebrates. *Advances in the Study of Behavior, 32*, 1-75.
- Granovetter, M. (1978). Threshold models of collective behavior. *American Journal of Sociology, 83*(6), 1420–1443.
- Kauffman, S. A. (1993). *The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution*. Oxford University Press.
- Kittel, C. (2004). *Introduction to Solid State Physics*. Wiley.
- Lewes, G. H. (1875). *Problems of Life and Mind*. London: Trübner.
- McCulloch, W. S., & Pitts, W. (1943). A logical calculus of the ideas immanent in nervous activity. *The Bulletin of Mathematical Biophysics, 5*(4), 115–133.
- Mill, J. S. (1843). *A System of Logic*. London: Parker.
- Piaget, J. (1950). *The Psychology of Intelligence*. London: Routledge.
- Rumelhart, D. E., & McClelland, J. L. (1986). *Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructure of Cognition*. Cambridge: MIT Press.
- Scheffer, M., Carpenter, S., Foley, J. A., Folke, C., & Walker, B. (2001). Catastrophic shifts in ecosystems. *Nature, 413*(6856), 591–596.
- Stanley, H. E. (1971). *Introduction to Phase Transitions and Critical Phenomena*. Oxford University Press.
- Sumpter, D. J. T. (2006). The principles of collective animal behavior. *Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 361*(1465), 5-22.
- von Bertalanffy, L. (1968). *General System Theory: Foundations, Development, Applications*. New York: George Braziller.
- von Foerster, H. (1973). *Cybernetics of Cybernetics*. Urbana: Biological Computer Laboratory.
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